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Kurt
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der kollektive Gedanke sowie die neuen Symbole, Ideen, Lebenstypen unmittel-
bar aussprächen, sei diese erkenntnistheoretisch wertvoll. Darin liege auch das
Faszinosum für Freunde und Gegner des aktuellen russischen Geisteslebens.
Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen wirken sich auch auf die
theatralen Symbole aus, wobei Gregor erneut Analogien zur bildenden Kunst
zieht: Der Ansturm neuer Gedanken und Gefühle forme also rasch neue theat-
rale Symbole. Diese Erneuerung der Werte bedeute zugleich Auflösung. Vasilij
Kandinskijs Bildsymbolik, dessen Reduktion auf das Einfachste, Elementarste,
habe im Theater, besonders im sogenannten „entfesselten Theater“ Tairovs,
„seine genauen Parallelen gefunden“. Tairov habe ein autochthon russisches
Theater entworfen, das „zu den Kräften der primären, starken Schauspielkunst“
[RT 40f.], zum ‚puren‘ Theater, zum stilisierten Stil der Rede und des Spiels
zurückkehren möchte. Der Schauspieler werde nicht in ein Bild gestellt, sondern
auf die Bühne, womit sich Tairov zum Wiederentdecker der Dreidimensionalität
der Bühne mache. Nicht die Auflösung des Theaters, sondern, umgekehrt, stren-
gere Bindung bedeute das entfesselte Theater; in Raumkonstruktionen ist der
Schauspieler beispielsweise gezwungen, präziser zu spielen. Ähnlich den Bildern
Kandinskijs werde die Anordnung der einzelnen konstitutiven Elemente (Büh-
nenbild, Schauspieler) neu erfunden, womit sich ein Assoziationsraum öffne.
Indem Tairov auf überkommene szenische Mittel der Raumwertigkeit verzichtet
und stattdessen die alten Raumverhältnisse der Bühne zugrunde legt, entstehe
Raumsymbolik (anstelle von Bildsymbolik). Dabei erziele er ähnliche Ergebnisse
wie das Barocktheater: Vorgetäuschte Architektur wirke raumsymbolisch [vgl.
RT 43].
Das Architekturtheater, insbesondere die Versuche Tatlins, gelten Gregor als
logische Konsequenz des Raumkünstlers Tairov und zugleich als Vollendung,
über die hinaus keine weitere Auflösung mehr möglich sei. In der voranschrei-
tenden Reduktion auf elementare Gebilde wie Pfeiler, Kreis, Segel wird die Bühne
selbst Symbol mit räumlich-dramatischer Wirkung; ein Symbol, das kaum mehr
mit Schauspielern zu bevölkern sei – radikalstes Theater.
Auch Mejerchol’d kehre zu den „reinen Elementen des Theaters“ zurück.
In seinem dynamisch-bewegten Theater sei der „Ausdruck des Spiels statt im
Bilde und in der Stimmung, statt in der Rede und in der Beleuchtung“ „in der
für das Kollektivum tätig sind, dann stürzen sich diese verloren gegangenen Werte in
das schöne Scheinbild des Theaters, um sich zwischen acht Uhr abends und Mitter-
nacht ungehindert ausleben zu können.“ Um die Forderung zu erheben: „Nein, in
Russland sollte vor allem das Theater verboten werden.“ (Ders.:
Gastspiel Moskauer
Künstlertheater, Typoskript, Theatermuseum, Wien HS_VM 2742 Gr).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur