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Gregors Sowjetreise und Das russische Theater 191
des Films exemplifiziert. Am russischen Theater fasziniere die „Ergriffenheit im
Ganzen“ und Analyse im Einzelnen, am amerikanischen die „primitive Synthese
der Erscheinungen“.40 Das amerikanische Theater befriedige das Unterhaltungs-
bedürfnis, dem eine materialistische Weltanschauung zugrunde liege. Bei beiden
Ausformungen handle es sich um zwei Pole gegenwärtiger Kultur.
Den (fast) identischen Titel, nämlich Russisches und amerikanisches Thea-
ter. Pole der Gegenwartskultur trug auch jener Vortrag „mit Lichtbildern und
Grammophon-Einlagen“, den Gregor beispielsweise im Februar 1929 in Mün-
chen41 und am 1. Februar 1931 vor dem Wiener Frauenverein in den Räumen
der Politischen Gesellschaft hielt.42 Bereits der Titel antizipiert die antitheti-
sche Argumentation, die in einer gewissen Weise das Nachkriegsszenario des
Kalten Krieges vorwegnimmt: Amerika und die Sowjetunion als geographisch
wie ethnographisch unterschiedliche Welten, deren Gegensätze sich durch die
politische Entwicklung der letzten Jahre verstärkt haben. Gregor illustriert dies
mittels der Folklore: Während das russische Volkslied schlicht-‚innig‘ sei, seien
amerikanische Tanzweisen spitz-grell-rhythmisch. Ebendies zeige sich auch in
der Malerei: Russische Zeichnungen charakterisiere anspruchslose, gefühls-
betonte Primitivität, indianische Masken und Tänze dagegen zeigen „stark auf
physiologischen Reiz eingestelltes künstlerisches Streben“. Selbiges gelte adäquat
für die Bühne: Das russische Theater möchte die Aufmerksamkeit des Zuschau-
ers auf das Wichtigste konzentrieren, primitiv und analytisch bleiben, während
das amerikanische Theater synthetisch Detail über Detail – Schauspieler, Aus-
stattung, Musik etc. – türme, um den Zuschauer zu ‚erschlagen‘. Amerika ziele
auf Reiz, Unterhaltung und Entspannung vom Alltag; in Russland bedeute das
Theater die ‚Krönung‘ des Alltags.43 Wohin sich Europa wenden mag, darüber
trifft Gregor noch keine Entscheidung.44
40 Ebd., S.
10.
41 Vertrag Kammerspiele im Schauspielhaus (München) – Joseph Gregor, 16.2.1929,
Theatermuseum, Wien HS_VM 78555Gr.
42 Im Nachlass Gregors hat sich kein Vortragsmanuskript erhalten, sodass der Inhalt
aus zeitgenössischen, sehr wohl im Nachlass befindlichen Zeitungsberichten rekons-
truiert werden muss.
43 Vgl. -y -y.:
Vortrag Josef [sic] Gregors im Wiener Frauenheim. In:
Neue Freie Presse
(1.2.1931), S. 15.
44 Vgl. ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur