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Barbara
Lesák214
Klassiker behaupten.“35 Die klassische französische Operette Giroflé-Girofla war
jedoch nicht nur ‚politisch korrekt‘ im Sinne der sowjetischen Kultur-Wächter,
sondern auch
– wie ein Auszug aus der Kritik von Max Graf zeigt
– die optimale
Spielvorlage für Tairovs ‚entfesselten‘ Spielstil: „Man hat eine alte Operette gese-
hen und den Geist eines neuen Theaters verspürt, das in seiner Art großartig und
technisch vollendet ist wie ein moderner Aeroplan, der durch die Luft schwebt,
hoch über der Stadt und fernen Ländern zu.“36
Es herrschte Einstimmigkeit in Wiens Theaterkritikerszene, dass Tairovs
Kammertheater, sein, wie er es auch bezeichnete, „synthetisches Theater“,37
eine überwältigende neue Theaterästhetik bot, die einen nicht von vornherein
politisch indoktrinierten, daher auch für die bürgerlich-liberale Theaterkritik
gangbaren Weg aufzeigte, um aus einer sich überlebt habenden Theatertradi-
tion heraus- und in das moderne Leben hineinzufinden. Im „biomechanischen“
Theater Vsevolod Mejerchol’ds38 hingegen – der großen Konkurrenz zu Tairovs
„synthetischem“ Theater
– herrschte ein radikaler Theater-Konstruktivismus vor,
der parallel zur erfolgreichen russischen Revolution des Proletariats auf einen
„Theateroktober“ hin arbeitete, während Tairov ein im Grunde universelleres,
nicht-politisiertes Reformprogramm anbot. Tairov kritisierte den russischen
Theater-Konstruktivismus in Gestalt von Mejerchol’d auch sehr heftig, indem
er ihm eine einseitige Maschinenästhetik vorwarf, wodurch die Schauspieler zu
bloßen Maschinen beziehungsweise zu „Ford-Arbeitern“ degradiert wären.39
Mejerchol’ds Truppe, die 1930 zwar in Berlin und Paris gastierte, kam nicht nach
Wien, sodass ein Vergleich mit Tairov entfallen musste. Tairovs Kammertheater
hingegen sollte 1930 noch ein weiteres Mal in Wien auftreten. Wieder wurde
eine Operette, und zwar Lecocqs Tag und Nacht, auf neue Weise interpretiert,
und mit Eugene O’Neills Drama Alle Kinder Gottes haben Flügel – kurzerhand
von Tairov in Die Neger unbenannt – stand ein am Broadway noch keineswegs
gespielter, in Moskau jedoch hoch angesehener amerikanischer Dramatiker auf
dem sowjetrussischen Spielplan.
35 Karl Kraus: Aus einem Moskauer Bericht. In: Die Fackel, Nr. 781–786/1928, zit.
nach: Karl Kraus: Die Fackel. Bd. 10. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1968–1976
[Reprint], S. 49.
36 Max Graf:
Tairoff in Wien. „Giroflé-Girofla“ von Lecoq. In:
Der Tag (18.6.1925), S.
5.
37 Im synthetischen Theater sind alle Ausdrucksweisen des Theaters zu einem homo-
genen Ganzen vereinigt (vgl. Tairoff, Das entfesselte Theater, S. 52).
38 Vgl. die Einführung zum Theater Mejerchol’ds in: Manfred Brauneck: Theater
im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek
b.H.: Rowohlt 1986, S. 314–322.
39 Vgl. Tairoff, Das entfesselte Theater, S. 33.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur