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Marco
Hoffmann256
werden: Brand integriert sie in einen betäubten Klangrausch aus Vergnügungs-
sucht.
Die zweite zentrale Stelle, in der Jazz als ein Element der Oper auszuweisen ist,
findet sich bereits im ersten Akt. In einem „Gartenvergnügungs-Etablissement“
performt eine Jazzband, die in diesem Fall einer reduzierten Bigband-Besetzung
sehr nahe kommt.68 Interessant ist die Violine, die als solistisches Instrument
eingesetzt wird und eine Improvisation vortäuscht. Schon in Ernst Kreneks 1927
uraufgeführter Oper Jonny spielt auf stellt die Solovioline, trotz ihrer eigentlich
sehr europäisch-traditionellen Semantik, die Verführungskraft des Jazz dar. Im
berühmten Schluss von Kreneks Oper spielt der afroamerikanische Jazzmusiker
Jonny auf einer Bahnhofsuhr, die die Erdkugel repräsentiert, stehend zum Tanz
auf.69 Jonny verkörpert die Rhythmen Nordamerikas, die scheinbar die ganze
Welt in Besitz nehmen und, so im Schlusschor zu vernehmen, „das alte Europa
durch den Tanz“ beerben.70 Das gleiche Amerika-Bild wird bei Brand in der vor-
liegenden Szene aufgerufen. Im vierten Bild, welches an das lange Vorspiel der
Jazzband anschließt, tanzen und singen „vier Neger“, die das Publikum amüsie-
ren und begeistern. In ihnen spiegelt sich das Hypnotikum der Zeit: Sie betören
ihre Zuschauer und -hörer durch eine Musik, die ein vermeintliches Gegenstück
zu den futuristischen Anleihen der Maschinenmusiken bildet
– und das, obwohl
sie ihre Zeit und die Arbeiterklasse in gleichem Maß repräsentieren.71
Doch für Maschinist Hopkins scheint es nicht primär von Interesse zu sein,
welche Sphären, seien sie semantischen oder musikalischen Ursprungs, im Kon-
trast zueinander stehen. Ergiebiger sind die Berührungspunkte der von Brand
veranschlagten verschiedenen Idiome. So unterschiedlich, wie der Jazz etwa auf
den Zuhörer im Vergleich zu den Maschinenmusik-Sequenzen wirkt, so haben
beide musikalisch doch eine entscheidende Gemeinsamkeit: In meist stark ost-
inatohaft ablaufenden Repetitionen und rhythmischen Mustern verkörpern
sie beide den schnellen Strom der 1920er Jahre und werden auch bei Brand als
68 Sowohl der Einsatz von Saxophonen und zwei Klarinetten, Trompeten, einer Jazz-
posaune, Banjo und Klavier ist neben der Solovioline vorgesehen (vgl. ebd., S.
165).
69 Vgl. Ernst Krenek:
Jonny spielt auf (Klavierauszug). Wien:
Universal-Edition 1925/26,
S.
203:
„Sowie die Uhr unten angekommen ist, erscheint auf ihr transparent die Zeich-
nung der Erdkugel. Der leuchtende Globus beginnt zu rotieren, Jonny steht auf dem
Nordpol und spielt die Geige, alles tanzt im Kreis um die Kugel.“
70 Ebd., S.
207.
71 Fast könnte man diese Gegensätze auch den russischen Institutionen, der o.g. ASM
und der RAPM, zuordnen: Der eine Stil ist volksnah („gegenwärtig“), der andere
visionär (futuristisch).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur