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Otto R. Schatz –Neue Sachlichkeit und Proletkult 307
Die stolze Gleichmut in den Gesichtern des statuarisch
– und bloßfüßig
– in der
Mitte positionierten afrikanischen Paares stellt das Demütigende der Situation
aus und wirft es in die latent entgleisenden Körperhaltungen und Gesichtszüge
der beiden weißhäutigen Männer zurück:
der Ausrufer, der den Arm, nach oben
ausgerenkt, um die Schulter seines Schauobjekts legt und um seinen Gewinn
schreit, und der wie sprungbereit den linken Arm auf das Geländer stützende
Halbstarke am rechten Bildrand, der mit herausforderndem Blick nach links
schaut, als wollte er einem nicht im Bild sichtbaren Konkurrenten gegenüber
seine Vorzugsoption klarstellen. Mit dem angedeuteten Hitler-Bärtchen könnte
man ihn als Typus des gewaltbereiten Hitlerjungen interpretieren. Die erotische
Grundierung malt Schatz in die Bekleidungsstücke hinein. Der im Zentrum ste-
hende Afrikaner trägt ein knallgelbes Kleid, eine Art Nachthemd, jedenfalls ein
Kleidungsstück rein europäischer Prägung; auch um die Hüfte seiner Partne-
rin ist kein Lendenschurz geschlungen, sondern ein Badetuch, nur ihr nackter
Oberkörper wird gleichsam vom Phantasiebild der „Wilden“ in die europäische
Peepshow transferiert – und vor den Blicken oder Schlimmerem wird sie ihr
Partner, der wie ungeschickt bedeckend die Hand vor ihrer rechten Brust hält,
nicht bewahren. Das scheint auch der an den linken Rand gerückte Afrikaner –
im Badetuchüberwurf auch er
– zu wissen. Sein Blick ist in den Bildhintergrund
gerichtet, auf die blonde Frau im Kassenhäuschen, die wie Anteil nehmend mit
vorgebeugter, leicht geneigter Kopfhaltung die zum Schauobjekt degradierte
schwarze Frau fixiert. All das drückt sich in den unterschiedlichen Arm- und
Beinstellungen der Figuren aus, die dem tektonischen Bildaufbau eine verbor-
gene Dynamik einschreiben.
Was Schatz’ Werk prinzipiell auszeichnet, ist die produktive Anverwandlung
verschiedener Stile und Gesten ohne jedes Schielen auf ‚angesagte‘ Strömungen
oder Tendenzen, und das ist einer zwangsläufig zu Kategorisierungen neigen-
den kunsthistorischen Rezeption eben selten zuträglich. Schatz übernimmt das
Dramatische des Expressionismus in gebändigter Form in die klare geomet-
rische Linienführung seiner neusachlichen Bildkompositionen, transponiert
seine anfängliche Nähe zu Egon Schiele in seine mit Grautönen wie lavierend
arbeitenden Holzschnitte der späteren Jahre, und importiert in manche seiner
Frauenakt- und Blumen-Holzschnitte sogar Art déco-Elemente. Selbst dort, wo
seine großformatigen Figurenbilder mit der Eliminierung des Pinselduktus, der
nüchternen Detailtreue und dem strengen Aufbau der Neuen Sachlichkeit nahe
stehen, enthalten sie darüber hinaus häufig ein Element der Dynamisierung und
einen sozialkritischen Kommentar.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur