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geschichtliche Thatfache, daß ursprünglich jedes Volt seine eigene
Regierung besaß und daher ein staatliches Ganze bildete, hatte
zur Folge, daß das Recht zwischen Staaten und zwischen Völkern
(internationales und Völkerrecht) ganze Jahrhunderte hindurch für
eines und dasselbe, für identisch gehalten wurde, ja meistentheils
auch bis jetzt gehalten wird. Und doch hat es die fortgeschrittene
Centralisation und Decentralisation der Welt schon längst bewirkt,
daß die Begriffe „Staat" und „Nation" aufgehört haben, für
identisch zu gelten, congruent zu sein und einander wechselseitig zu
decken; denn manches Volt zerfiel in mehrere Staaten, und mancher
Staat faßt mehrere Völler in sich. Auch der feudale Begriff des
Wortes „Nation", mit dem einst nur die politisch berechtigten
Klassen bezeichnet und aus dem das gemeine Volk (in Ungarn)
und die Bauern (in Polen) ausgeschieden waren, ist bereits zum
Anachronismus geworden, seitdem in fast ganz Europa der Stünde-
schematismus aufgehoben und den Antiquitäten beigezählt wurde.
In den letzten Tagen legte man den Worten „Nation" und
»Nationalität", noch einen anderen Sinn bei, besonders im Westen
Luropa's, wo „Nation" dasjenige Element im Staate bedeutete,
welches unter der Regierung eine« Ludwig XIV mit dem Wahl-
spruch ,I /Ä»t e'ost NOi," gewöhnlich nur „treue Unterthanen"
benannt zu werben pflegt; unter „Nationalität" versteht man
hiernach das Streben jener Unterthanen nach Erlangung und
Genuß von politischen Rechten. In diesem Sinne faßte man auch
diese Worte in den bekannten Actenftücken, die unlängst in Pari«
und Rom publicirt wurden (8. Dezember 1864.) Indessen bedarf
es nicht vieler Beweise, baß dies nur eine Begriffsverwechflun«
ist, die zwar an manchen Orten absichtlich unterhalten wird, von
der jedoch zu wünschen wäre, daß sie wenigsten« in wissenschaftlichen
Kreisen schwinden möchte. Bei uns gebraucht man diese Worte
viel richtiger in ihrem genetischen und natürlichen Sinne inS-
beszxidere zur Bezeichnung von sprachlichen Unterschieden.
^ Daß das Gefühl, Bewußtfein und die Anerkennung de» Prin-
elps der Nationalität im eben erwähnten Sinne heutzutage an
allen Ecken nnd Enden der gebildeten Welt überhand nimmt und
erstarkt, können nunmehr weder Freunde nsch Feinde in Abrede
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Buch Österreichs Staatsidee"
Österreichs Staatsidee
- Titel
- Österreichs Staatsidee
- Autor
- Franz Palacký
- Verlag
- I. L. Kober Verlag
- Ort
- Prag
- Datum
- 1866
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 14.7 x 21.5 cm
- Seiten
- 110
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918