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99.
Jänner 1848
[venedig] 9. Jänner
die hiesige centralcongregation hat sich ebenfalls über Antrag der hiesi-
gen municipalität für die ernennung einer commission zur untersuchung
der landesbeschwerden und zwar in der Art ausgesprochen, daß dieselbe
gemeinschaftlich mit dem lombardischen comité entweder in mailand oder
an einem 3. orte z.B. verona zu berathen hätte. Palffy hat sich dabey sehr
liberal benommen und diesen Beschluß trotz des Widerstandes der centrale
(welche hauptsächlich aus alten schlafhauben besteht) durchgesetzt, es
müssen daher die instructionen aus Wien in diesem sinne lauten.
in mailand ist es am 2., 3. und 4. zu blutigen excessen gekommen, es
hat 11 todte und etliche 20 verwundete gegeben. die sache fing damit an,
daß Alle, auch militärs, welche auf der straße kaiserliche cigarren rauch-
ten, insultirt wurden, eine neue Art der opposition als schlechte nachäffung
der vorgänge in Boston im Beginne des nordamerikanischen krieges. der
vicekönig hat eine ungeschickte Proclamation erlassen, worin er reformen
verspricht, von der liebe der mailänder zu ihm spricht etc. solche schafs-
köpfe verderben Alles, ich würde das martialgesetz proclamiren, gezwun-
gene Anleihen ausschreiben und sie ganz willkürlich auf die übelgesinnten
reichen umlegen, das geld en depôt behalten, um sie durch die hoffnung
einer künftigen Zurückerstattung zu ködern, andererseits aber diese Anleihe
offen erhalten, um sie als ein damoklesschwert über den leuten schweben
zu lassen. ich bin begierig, was man in Wien dazu sagen wird.1
in Padua hat es wieder emeuten gegeben, und wahrscheinlich wird die
universität gesperrt werden müssen, jeder tag bringt etwas neues in dieser
Art, gestern erzählte man von einem mordversuche auf general Weigelsperg
in Brescia, es wird aber soviel gelogen, daß man alle diese gerüchte äußerst
behutsam aufnehmen muß. das militär ist wie natürlich exasperirt.
unter diesen verhältnissen ist das leben hier entsetzlich langweilig, im-
mer und ewig das theater. thurns sehe ich ziemlich viel, und resi gefällt
mir besser als sonst, sie spricht viel und gerne von erzherzog friedrich. in
8 tagen wird seine feyerliche Beysetzung statthaben, wozu erzherzog Al-
brecht von Wien kommen wird.2
1 „ich bleibe dabey, daß eine gezwungene Anleihe, aber nicht auf die gesammte Bevölkerung,
sondern auf einzelne übelgesinnte reiche (welche ohnehin erwiesenermaßen das gesindel
im sacke haben) in starken summen umgelegt, und das damoklesschwert über den Andern
schwebend, das beste mittel wäre, denn der italiener liebt sein vaterland, aber noch mehr
seinen Geldbeutel“ (Andrian an seine Schwester Gabriele, 13.1.1848; K. 114, Umschlag
662).
2 vizeadmiral erzherzog friedrich, ein jüngerer Bruder von erzherzog Albrecht, war bereits
am 6.10.1847 in Venedig an der Gelbsucht gestorben und am 14. Oktober vorläufig in der
kirche santo stefano beigesetzt worden. die feierliche überführung und Beisetzung des
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien