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die revolution in sicilien gewinnt ein sehr ernsthaftes Ansehen, die revo-
lutionäre regierung unterhandelt mit dem könige wie de puissance à puis-
sance und scheint unter englischem schutze zu stehen, sie verlangt, wozu sie
auch vollkommen das recht hat: ihre uralte constitution, welche erst 1817
durch einen gewaltstreich aufgehoben worden ist. heute spricht man von
ähnlichen Bewegungen in neapel, ja sogar von der flucht des königs.
hierher marschiren mittlerweilen truppen über truppen, die Armee ist
auf halben kriegsfuß gesetzt, und in den nachbarprovinzen werden reser-
vekorps aufgestellt, welche von radetzkys Befehlen abhängen sollen, wozu
alles dieses? Zu einem kriege sehe ich nicht die mindeste Wahrscheinlich-
keit, um die mißvergnügten hier niederzuhalten, braucht man nicht soviel
truppen, es müßte also nun an eine intervention in neapel gedacht werden,
aber ist denn jetzt bey uns der moment, an so etwas zu denken? Was sagen
unsere finanzen zu allen diesen rüstungen? die Anleihe beym kaiser von
rußland scheint sich zu bestätigen. da wäre es denn doch hohe Zeit, daß die
stände einschritten, ich bin neugierig, was mich in Wien erwartet.
strasoldo, welcher so eben von mir weggeht und mir Briefe aus Wien ge-
bracht hat, erzählt nicht viel neues, es herrscht dort die alte confusion und
unschlüssigkeit, als sie die Proclamation des kaisers an den vicekönig ab-
schickten, glaubten sie nicht, daß er sie veröffentlichen werde! so wie er den
Befehl zur Publicierung des standrechtes, welchen er schon seit 2 monathen
erhalten hat, trotz wiederholter Befehle nicht veröffentlicht. das nennt man
eine regierung!! – – übrigens weht der Wind in Wien gegen alle concessio-
nen, was insofern ganz gut wäre, wenn man damit ein energisches Auftreten
verbinden würde, was aber nicht geschieht, diese scheinbare und negative
festigkeit entsteht also wieder nur aus dem erbübel der dummheit. das
Wasser steht ihnen noch nicht nahe genug am munde, aber was nicht ist,
kann werden, wird werden, und zwar bald. von der Wiener émeute ist übri-
gens kein Wort wahr, nur soll eine sehr hitzige conferenz stattgehabt haben.
lerchenfeld schreibt mir, daß er und einige freunde das neue censur-
gesetz in Bayern benützen wollen, um dem nürnberger kurier eine neue
gestaltung zu geben, und wünscht durch mich mitarbeiter aus und über
oesterreich zu erhalten, ich muß gestehen, daß mir das Zeitungsschreiben,
überhaupt die schriftstellerey nicht nur persönlich lästig wird, sondern daß
auch ihre Bedeutung in letzterer Zeit in meinen Augen sehr abgenommen
hat, seitdem die ereignisse uns so mächtig in die hand arbeiten. es ist jetzt
weit wichtiger, daß wir uns für die bevorstehende neue gestaltung der dinge
Andrian behandelten themen nur Artikel aufnehmen könne, „wenn sie erzählend, referi-
rend, nicht raisonnirend gehalten sind, wenigstens was den vorzugsweisen character der
mitteilung betrifft.“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien