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fonds1 nehmen müssen und diesen gänzlich sprengen. Aber wie lange kön-
nen diese währen? die gerüchte von einer constitution wiederholen sich alle
tage, und dieß ist schon für sich allein ein bedenkliches sympton.
es wäre nichts ungeschickter, als jetzt gleich mit einem ausgearbeiteten
verfassungsgesetze (sey es nun über Provincialstände oder noch mehr), Pi-
piz soll an einem solchen arbeiten, hervorzutreten, vor der hand sollte man
sich begnügen, die intention auszusprechen, etwas zu thun, und zugleich zur
Ausarbeitung ein comité niedersetzen, welches aus männern vom fache aus
den verschiedenen Provinzen zu bestehen hätte. Zugleich aber müßte binnen
einer bestimmten frist die veröffentlichung des finanzetats und der Bank-
bilanz angeordnet werden, denn hier steckt der knoten am meisten.
vor Allem ist es nothwendig, daß sich jetzt, wo der entscheidende moment
herannaht, die vorzüglichsten männer über dasjenige, was zu thun wäre,
verständigen. daß dieses das hauptthema meiner gedanken und der stoff
vieler meiner unterredungen ist, ist natürlich. heute war stifft deßhalb
lange bey mir, und nachmittag leyerten doblhoff und ich bey fries (wo wir
aßen) denselben gegenstand durch. doblhoff beschränkt sich zu sehr auf ad-
ministrative verbesserungen, gemeindereform etc., stifft wirft wieder die
stände geradezu über den haufen und will kurzweg eine constitution für
die deutsch-slavischen länder, ich möchte eine reorganisation der Provinzi-
alstände mit vereinigten Ausschüssen etc., kurz die ideen müssen sich noch
abklären, denn die ereignissse sind uns unvermuthet schnell über den hals
gekommen, und wir sind allerdings noch nicht ganz vorbereitet.
hier erzählt man sich, daß ich an einer ständischen verfassung arbeite
und täglich stundenlange conferenzen mit graf kolowrat habe! daß viele
leute, freundlich und feindlich gesinnte, mich beobachten, ist gewiß.
neulich war heeckeren lange bey mir und meinte, daß jetzt meine Zeit
gekommen sey; ich solle ein Mémoire vel quasi Programm schreiben und auf
alle fälle bereit halten. da es nichts schaden kann, so will ich es auf alle
fälle, auch zu meiner eigenen consolidirung thun, obwol ich der Ansicht
bin, daß wir lange noch nicht so weit sind, als Baron heeckeren glaubt. ge-
stern hatte ich eine lange unterredung mit Pillersdorf, seine Ansicht über
die vorfälle in italien ist viel zu leicht, und auch er will den legalen Weg
nicht verlassen. dagegen will er concessionen machen, auch politische, und
wie natürlich hier wie dort, und zwar nicht auf büreaukratischem Wege, son-
dern so zu sagen durch notabeln. Wer hätte Alles das noch vor 2 monathen
erwartet?! interessant war mir diese conversation hauptsächlich dadurch,
daß er mir ziemlich offen aussprach, daß man mich jetzt im staatsdienste
brauchen könnte und daher meinen Wiedereintritt gerne sehen würde, et-
1 der 1817 gegründete allgemeine staatsschulden-tilgungsfonds.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien