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und viel gutes stiftete. in allen Buchhandlungen lagen in den kasten die
grenzboten etc. aus, wenn ich sage alle, so meine ich die wenigen, welche
gestern offen waren, denn bey Weitem die mehrzahl aller läden war noch
immer geschlossen.
um 12 uhr fuhr der kaiser mit erzherzog franz carl und franz Joseph
aus, unter betäubendem Jubel. das volk wollte die Pferde ausspannen,
hängte sich an den Wagen, schüttelte ihm die hand etc. dieß that mehr zur
herstellung des vertrauens als Alles Andere, denn man hatte gerüchte von
seiner flucht nach laxenburg etc. verbreitet. von da an nahm das ganze
den Anblick eines ungeheuren volksfestes an, alle straßen und Plätze ge-
drängt voll, überall défilirende nationalgarden zu fuß und zu Pferde, Jubel,
lebehoch etc., maueranschläge, gruppen etc. überhaupt ist es unglaublich,
wieviel improvisirte, mitunter vortreffliche redner am 14. und 15. auftauch-
ten, wer über den graben, kohlmarkt etc. ging, konnte oder mußte vielmehr
einen ganzen curs Politik durchmachen, in jeder gruppe wurde über etwas
Anderes gesprochen: über Preßfreiheit, öffentlichkeit der gerichte, consti-
tution, ministerverantwortlichkeit etc., ich ging, soviel ich Zeit hatte, herum
und suchte, ohne jemals in irgend einer gruppe den hauptredner zu ma-
chen, zu beruhigen und aufzuklären. ich habe wohl mit tausenden gespro-
chen, die ich früher nie sah und wohl nie mehr sehen werde. sonst war Alles
ruhig, die haltung bewundernswürdig, keinerlei insulte fielen vor, ausge-
nommen daß das militär, wo es sich zeigte, ausgepfiffen wurde.
nachdem um 8 im Zeughause die Waffen für die neue nationalgarde ver-
theilt worden war[en], wurde um 3 uhr die formierung in compagnien vor-
genommen, ich gehöre zu der des hauptmann mitis und zittere auf meine
erste einberufung. von da ging ich einen Augenblick in den leseverein, wel-
cher ein hauptquartier der chefs geworden war. Auch von da aus wurde für
die herstellung der ordnung viel gewirkt. um dieselbe Zeit kam die ungari-
sche deputation an, darunter kossuth, welcher mit großem volksjubel emp-
fangen wurde, man wollte ihm sogar die Pferde ausspannen, ein gleiches
geschah dem erzherzog stephan, der ein paar stunden früher angekommen
war. die magnaten haben nämlich auf Antrag des Palatins die bekannte
Adresse unverändert angenommen, und die deputation soll sie überreichen
und nebstdem um Preßfreiheit, ministerverantwortung und entlassung Ap-
ponyis bitten. dieser hat übrigens bereits abgedankt, und wie ich höre, Jo-
sika ebenfalls. gegen 4 uhr war ich mit miska esterházy auf dem graben,
als sich auf einmal unendlicher Jubel heranwälzte: es wurde die kaiserliche
Proclamation einer constitution verkündigt! der lärm, das geschrey war
endlos, männer, Weiber, aus den fenstern etc., es war prächtig. die leute
waren wie verrückt, aber es war ein schöner moment. das war der schluß-
stein Alles dessen, was man in diesen tagen errungen hatte, und zugleich
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien