Seite - 54 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band II
Bild der Seite - 54 -
Text der Seite - 54 -
54 Tagebücher
den ich heute zuerst wieder sah, ist viel raisonnabler, als ich dachte, auch er
scheint zum theile davon angesteckt, will es aber noch nicht gestehen, lato
Wrbna habe ich noch nicht gesehen, übrigens benimmt sich unsere höch-
ste Aristokratie fast ohne Ausnahme infam. durch die 3 tage ließ sich fast
keiner unserer fürsten sehen, sie sind voll Angst und Jammer, Alles sey
verloren, dann schimpfen und witzeln sie wieder, in die nationalgarde hat
sich außer lamberg und khevenhüller kein fürst einschreiben lassen. die
hunde richten die Aristokratie zu grunde.
unsere conferenz bey Bauernfeld wurde durch ein sehr trauriges ereig-
niß unterbrochen. Bauernfeld wurde nämlich plötzlich wahnsinnig in folge
der erregung der letzten tage und der soeben eingelaufenen guten nach-
richten. später, als ich wieder hinkam, mich nach ihm zu erkundigen, war
er wieder ganz bey sich, nur äußerst matt, und sagte, er wolle auf 8 tage
aufs land, es sey jetzt vor der hand ohnehin nicht viel mehr zu thun etc.,
wobey ich ihn bestärkte. diesen Abend aber ist er vollkommen rasend. der
schmerz seines freundes dessauer war wirklich rührend zu sehen.
[Wien] 21. märz
die Aspecten gestalten sich trübe, sehr trübe. der rausch der ersten tage
ist verflogen, und jetzt, wo die nachrichten aus den Provinzen einlangen,
zeigen sich erst die colossalen schwierigkeiten einer befriedigenden ent-
wicklung. die czechische Partey in Böhmen erhebt kühner als je ihr haupt
und spricht ganz laut davon, daß der kaiser sich künftighin als slavenkaiser
ansehen und seine residenz nach Prag verlegen solle etc. sie wollen los-
sagung vom deutschen Bunde, wogegen ich zwar nicht viel einzuwenden
hätte, wenn wir eine österreichische (aber nicht eine slavische) nationalität
zu kreiren im stande sind, selbst der Adel, der bisher den czechen entschie-
den entgegen war, scheint jetzt in dieses horn zu stoßen, wenigstens reden
Procop und hans carl lazanzky gerade so, und fritz deym schreibt mir von
einer vereinigung Böhmens mit mähren und schlesien. es hat sich in Prag
ein Bürgercomité gebildet, welches stadt und land despotisch beherrscht,
eine deputation derselben ist jetzt hier und hat seiner majestät eine Peti-
tion überreicht, welche übrigens von jenen extremen Begehren nichts ent-
hält. diese Petition ist zwar von männern aller stände unterzeichnet, jedoch
bestanden die Bürger darauf, sie zu überreichen und niemand vom Adel in
ihre deputation aufzunehmen. hätte man die idee verfolgt, welche ich gleich
am 14. kolowrat mittheilte, nämlich männer des vertrauens in die Provin-
zen zu schicken, um dort die Bewegung zu leiten und zu regeln, so wäre es
vielleicht nicht so weit gekommen.
in grätz herrscht dagegen der beste geist, auch von da ist eine Bürger-
deputation hier. dort weht aber wieder, gerade so wie hier, ein enthusia-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien