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März 1848
die böhmische deputation und mit ihr der doppelgestaltige neuberg sind
heute abgereist und haben sehr günstige erledigungen mitgenommen, die
vereinigung mit mähren und schlesien ist jedoch vorläufig abgelehnt, und
die mährer selbst scheinen weit mehr deutsch als czechisch gesinnt zu seyn,
so sprechen sich auch die Adressen und deputationen von Brünn und ol-
mütz aus. morgen gehen die mährischen und die böhmischen stände nach
hause, wegen der roboth ist ausgemacht worden, daß sie in der ganzen
monarchie mit ende märz 1849 aufzuhören habe, und daß die entschädi-
gung von den Provinzialständen mit Beyziehung von vertretern des Bauern-
standes ausgemittelt werden soll. in Böhmen soll demnächst eine ständische
versammlung zusammentreten und sogleich eine sehr erweiterte vertre-
tung des Bürgerstandes beschließen, ein gleiches wird am 28. hier und am
30. in Brünn (wo sie sich permanent erklären) geschehen, in klagenfurt ist
es bereits geschehen, und ebenso in grätz. Weiters soll hier ein centralaus-
schuß sämmtlicher Provinzialstände, aus jeder Provinz 4, 2 landstände und
2 Bürger, zusammentreten, um wegen reorganisirung der provinzialständi-
schen verfassungen, entwerfung einer gemeindeordnung etc. gemeinschaft-
lich zu berathen.
in der stadt steigt indessen die Aufregung wieder, heute rückte wieder
militär und kanonen aufs glacis, namentlich sind die studenten unruhig,
sie wollen entfernung der oftgenannten Personen, die Jugend hat oft einen
richtigeren takt als die älteren leute, namentlich als die spießbürger.
[Wien] 29. märz Abends
die Aufmerksamkeit ist jetzt besonders auf die nachrichten von auswärts
gerichtet, und diese folgen sich schlag auf schlag, aus italien die widerspre-
chendsten unsinnigsten gerüchte, indem seit 6 tagen aus mailand die Po-
sten fehlen, daß venedig nicht wieder eingenommen ist, ist gewiß, ebenso,
daß das ganze land in vollem Aufstande ist, über das schicksal mailands
und radetzkys, über den einfall piemontesischer und schweizerischer frei-
schaaren, über die haltung der italienischen regimenter aber kann man
nichts Bestimmtes erfahren. daher große Beängstigung, heute stehen die
5 % auf 65!!!1 Börse, handel, industrie, Alles stockt hier, und das ist sehr
bedenklich.
in den übrigen Provinzen ist bis auf einige Bauernexcesse in krain gott-
lob bisher noch Alles ruhig, in Böhmen übt der czechismus und mithin die
unterste volksklasse noch immer eine Art terrorismus. Aber leider spuckt
es auch in den köpfen vieler Böhmen, von denen ich es nie erwartet hätte,
und sie sprechen von einem slavischen reiche, losreißen von deutschland,
1 gemeint ist die notierung der österreichischen staatsanleihen an der Wiener Börse.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien