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April 1848
[Wien] 5. April vormittag
heute Abend reise ich ab. ich wollte schon gestern fort, nun wünscht aber
die deputation und namentlich Professor endlicher, die reichsinsignien des
heiligen römischen reichs, welche hier in der schatzkammer liegen, ausge-
folgt zu erhalten und sie nach frankfurt überbringen zu können, ich mußte
daher gestern mit ihnen, und zwar an ihrer spitze, zu erzherzog Johann
und dann zum graf ficquelmont. letzterer bestellte uns auf 9 uhr Abends
wegen einer définitiven Antwort, um diese stunde aber erhielten wir eine
solche wieder nicht: er müsse deßhalb einen vortrag an seine majestät
machen, morgen hoffe er uns antworten zu können, jedenfalls aber hätten
wir die insignien der Bundesversammlung zu übergeben. der unglückliche
schuselka versuchte da eine langweilige hohle tirade über volksrecht und
nationalwillen, worauf ficquelmont sehr scharf und gut replicirte, und ich
dann diese discussion abschnitt. es ist nun ausgemacht worden, daß, falls
wir heute eine verneinende oder gar keine Antwort erhalten sollten, wir
Alle heute abreisen, denn es ist keine Zeit zu verlieren, die versammlung
ist seit 30. eröffnet, und wir kommen sehr wahrscheinlich post festum, be-
kommen wir eine bejahende Antwort, so reisen sommaruga, giskra und
ich (also von jeder deputation einer1) heute voraus, und die übrigen folgen
mit den kleinodien nach, da die übergabe, verpackung etc. 1 oder 2 tage
erfordern wird.
der staatsrath ist aufgelöst, erzherzog ludwig abgetreten, Windisch-
grätz übernimmt das commando eines Armeekorps in mähren, also gegen
rußland?! so wäre also jetzt Alles erreicht, nur ruhe und ordnung nicht, die
studenten wollen das heft nicht aus den händen geben, es bilden sich clubs
(z.B. der der volksfreunde in der kaiserinn von oesterreich, wo ein gewisser
dr. schütte, ein Westphale, dominirt) von den radicalsten tendenzen etc.
da muß etwas geschehen, sonst bereitet sich eine zweyte, viel ärgere revo-
lution vor. Andererseits ist die nationalgarde durch die ungeschicklichkeit
des graf hoyos am Zerfallen, und leider ist die seele derselben, schmerling,
so eben zum Bundestage in frankfurt ernannt worden, wo er dem grafen
colloredo beygegeben wird, um die neue Bundesverfassung zu bearbeiten.
hartig geht heute nach italien (ob dieß eine gute Wahl ist?), um den in-
surgenten friedens- und vergleichsvorschläge zu machen, von radetzky
weiß man noch immer nichts gewisses.
men, „säen haß gegen die deutschen […] in ihren händen wird das Band der einigung zum
trennenden schwert!“
1 tatsächlich hatten vier gruppen Abgeordnete gewählt, und zwar die niederösterreichi-
schen stände, die stadt Wien sowie die fakultäten und die studenten der universität.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien