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April 1848
student. giskra, ein liberaler schreyer, endlich kuranda, ein geistreicher,
oberflächlicher, zudringlicher, vorlauter, charakterloser, grenzenlos eitler
Jude, der mir immer gründlicher zuwider wurde. nebstdem hatten wir noch
ein halb dutzend studenten als freywillige Begleitung mit.
Am 8. um 10 waren wir in eisenach und am 9. um 6 uhr früh per eilwa-
gen in frankfurt, wo wir im russischen hofe abstiegen. das vorhaben, vor
frankfurt liegen zu bleiben und feyerlich einzuziehen, wurde noch glückli-
cherweise hintertrieben. im laufe des vormittags sandten wir ein paar her-
ren aus unserer mitte zum Präsidenten des fünfzigerausschusses und zum
Bürgermeister, um unsere Ankunft zu melden, während ich zu nobili ging,
um mich zu orientiren. herr Abegg, welcher in soirons Abwesenheit den
vorsitz führte, sagte uns zu ehren auf 1/2 5 nachmittag eine sitzung des
Ausschusses an. Wir zogen im größten staate und mit einiger hanswurste-
rey dahin, wieder ganz gegen meinen Willen. großer Jubel auf den straßen,
hochs, Wehen der tücher etc. endlicher hielt eine Begrüßungsrede, worauf
Abegg sehr schön antwortete.
Was weiter in jenen tagen geschah, ist zu lang, um es ganz zu erzäh-
len, es waren äußerst interessante tage, welche wir fast fortwährend mit
den größten notabilitäten deutschlands verlebten, die republicanischen
tendenzen fand ich sehr in den hintergrund gedrängt trotz der wahnwitzi-
gen Bestrebungen heckers und struves, jedoch die allerbreiteste constitu-
tionelle färbung, Jacoby, simon und Blum repraesentirten im Ausschusse
das republikanische Prinzip, vielleicht auch zum theile soiron, viel sympa-
thie für oesterreich, jedoch nicht unter den extremen schattierungen, denn
man rechnet auf uns als conservatives element. meine stelle im Ausschuß
konnte und wollte ich nicht annehmen, da ich nach Wien zum centralaus-
schusse zurück seyn wollte, um dabey für görz einzutreten. daher wählte
ich dr. schilling zu meinem ersatzmanne, beynahe mit schwerem herzen,
denn die stellung im Ausschusse, welcher jetzt die einzige wirkliche regie-
rung in deutschland ist, ist jedenfalls eine sehr schöne.
Abends kamen wir Alle, die vom Ausschusse, die vertrauensmänner etc.,
bald im englischen hofe, bald in der freymaurerloge zusammen, und es
wurde da in einem fort debattirt, immer in der geistvollsten interessantesten
Weise. ich sah da gervinus, Jordan, gagern, kanzler Wächter, Pagenste-
cher, Jürgens etc.
unsere große sitzung in der evangelischen kirche, wo wir von einer Art
von kanzel herab sprachen und ich meinen Antrag wegen Beruhigung der
slavischen nationalitäten stellte, welchen ich tages darauf in der Ausschuß-
sitzung weiter ausführte, war das schaustück unserer mission,1 bey der
1 Andrian hatte einen Antrag auf sicherung der nationalen rechte der slawen gestellt: „das
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien