Seite - 72 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band II
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72 Tagebücher
discussion in der Ausschußsitzung über diesen meinen Antrag zeigte sich
die totale unkenntniß unserer Zustände von seite des Auslandes, und die
debatte wurde vertagt, ich aber reiste noch denselben Abend ab.1
der Bundestag spielt inmitten dieser großen revolutionären Bewegung
eine traurige rolle, diese beschränkt sich auf nachgeben, wobey colloredo
sehr klug verfährt.
Am 12. Abends 8 uhr verließ ich frankfurt in gesellschaft zweyer Aus-
schußglieder, schleiden und mathy (welcher sich durch seine herzhafte Ar-
retirung ficklers so eben so großes verdienst erworben hatte2), die wegen
der schleswigholsteinschen sache eine sendung nach Berlin hatten. mittags
waren wir in eisenach, Abends in halle, wo sich unsere Wege trennten und
ich noch bis leipzig fuhr, wo ich übernachtete. tags darauf fuhr ich mit der
heftigsten cholera und sehr leidend bis Breslau, wo ich einen Arzt holen las-
sen mußte, ein glück war es, daß ich meinen Jäger mit mir hatte. Am 15. um
2 uhr nachmittags verließ ich Breslau und war am 16. um 8 uhr früh hier.
Beym hereinfahren war ich durch die menge von schwarzrothgoldenen
fahnen an allen häusern überrascht, obwol großentheils durch anonyme
drohbriefe erzwungen, war es doch auch wirklicher germanischer enthusias-
mus, welcher eben damals seinen höhepunkt erreicht hatte und seitdem einer
reaction im entgegengesetzten, d.i. österreichischen sinne gewichen ist. diese
frage, staatenbund oder Bundesstaat, war der hervorragende gegenstand
dieser letzten acht tage und geht noch durch alle Blätter, sehr stürmische sit-
zungen im lesevereine, im ständischen hause etc. wurden fast fortwährend
darüber gehalten, wobey ich, ohne mich zu einer extremen Parthey zu beken-
nen, mich doch entschieden auf die seite der schwarz gelben, d.h. derjenigen
neigte, welche einen innigeren Anschluß an deutschland als den bisherigen
nur insoferne wünschen, als es mit der souveränität und unabhängigkeit oe-
sterreichs vereinbar ist.3 übrigens hielt ich es nicht für nothwendig, in einer
vorherige regierungssystem, welches die deutsche nationalität nicht achtete, berücksich-
tigte noch weit weniger die billigen Anforderungen der slavischen nationalitäten, nament-
lich in hinsicht auf volksunterricht und locale verwaltung […] Wir sagen uns von der ver-
antwortlichkeit für diese verfahrensweise feierlichst los, wir haben keinen Antheil daran
gehabt. fern sey es von uns deutschen unsere slavischen Brüder germanisiren zu wollen,
fern sey es von uns mit ihnen in irgendeinem andern verhältniss stehen zu wollen als in
dem der vollkommensten unbedingtesten gleichheit, der verbrüderung und des gegensei-
tigen vertrauens.“
1 Andrian veröffentlichte über seine tätigkeit in frankfurt zwei Artikel in der Allgemeinen
Zeitung v. 13.4., 1654, und v. 15.4.1848, 1684.
2 der badische Abgeordnete Josef fickler war am 8.4.1848 auf veranlassung von karl mathy
am karlsruher Bahnhof wegen hochverrats verhaftet worden. fickler war der organisator
des geplanten Aufstands im Bodenseekreis.
3 In K. 115, Umschlag 664, findet sich eine Einladung Leopold Neumanns v. 17.4.1848 zu
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien