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78 Tagebücher
ernsteren, staatsmännischen standpunkt stellte (ohne ein regierungsorgan
zu seyn) höchst nothwendig, es müßte vor Allem die grenzenlose ignoranz
und flachheit unerbittlich geißeln, mit welcher unsere Politiker von vorge-
stern, unsere 18jährigen schulknaben mit beyspielloser Anmaßung die wich-
tigsten gegenstände behandeln, und zu ernsterem studium oder zu größerer
Bescheidenheit ermahnen. dazu müßten aber vor Allem geldfonds da seyn,
um nicht von jedem skribler abzuhängen, und dafür muß nun gesorgt wer-
den.
im ganzen wird es nach und nach ruhiger, die constitution, welche am
25. erschien, hat allgemein befriedigt, obwohl besonders unsere ekelhafte
Journalistik darüber feuer und flammen spie, daß sie eine octroyirte sey,
daß sie zwey kammern anstatt einer, wie sie gewünscht hätten, einführte,
etc. nur die studenten wollen noch immer nicht das heft aus den händen
geben, und die regierung ist zu schwach, es ihnen zu entreißen, wenn da vor
Beginn des reichstags nicht energisch abgeholfen wird, so haben wir eine
zweyte und verstärkte Auflage des ungarischen Juratengesindels.
in ungarn geht es schlecht, Judenverfolgungen in Preßburg, in croatien
gährt es immer stärker, in italien scheinen die dinge eine bessere Wendung
zu nehmen, nugent rückt rasch vor, radetzky steht bey verona, tyrol ist
unter den Waffen, in krakau war ein versuch eines Aufstandes, der aber
durch castiglione blutig gedämpft wurde, stadion macht in galizien dumm-
heiten, wie mir scheint, jedoch ist es dort schwer zu urtheilen, etwas wovor
ich mich jetzt sehr fürchte, ist die beantragte vereinigung ungarns mit sie-
benbürgen, dieses würde ungarn zum nachtheile der monarchie noch mehr
stärken.
ich aber glaube noch immer trotz der declamationen von lamberg, Beth-
len und consorten, daß sich die österreichische monarchie noch halten läßt,
und diesem glauben will ich alle meine kräfte weihen, ich fühle es, daß ich
ohne diesen glauben allen kampfes- und lebensmuth verlieren würde.
ebendeßhalb aber bin ich ein entschiedener gegner jenes rücksichtslosen
deutschthums, welches eigentlich seinen grund in einem vorzeitigen ver-
zweifeln an dem Bestande oesterreichs hat.
[Wien] 6. may Abends
die Wahlen sind nun größtentheils beendiget, ich bin auf der landstraße
mit 68 von 96 stimmen und in Wiener neustadt mit 128 von 140 stimmen
gewählt worden und habe mich für letztere Wahl entschieden, weil es die
erste Wahl war, welche mir bekannt wurde, und weil man mir quasi mein
ehrenwort abnöthigte, sie anzunehmen, da es auf dem lande äußerst
schwer sey, die Wähler nochmals zusammenzutrommeln. Auch ist mir eine
so eminente majorität wirklich sehr schmeichelhaft, besonders da ich hiefür
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien