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816.
Mai 1848
rechne, dem jetzigen ministerium würde man es gleich als reaktionsver-
such auslegen, und es würde sich dann Bürgerstand und nationalgarde mit
den studenten alliiren, wie dieses jetzt seit einigen tagen geschieht. nur
auf Bürgerstand und nationalgarde kann sich jetzt eine regierung stützen,
denn die höheren klassen sind momentan vernichtet, ich hoffe nur momen-
tan.
in dieser überzeugung unternahm ich es am 4., einen versuch zu machen,
ich wollte mit doblhoff, Breuner, etc. zu erzherzog franz carl gehen, ihm
die lage der dinge vorstellen und ihm eine ministerliste und ein Programm
vorlegen. Aber ich fand nirgends Anklang. doblhoff zitterte und bebte bey
dem bloßen gedanken, und Alles, wozu ich ihn vermochte, war ein gemein-
schaftlicher gang zu Pillersdorfs neuem ministerialrath reich. Breuner
wollte ebensowenig anbeißen, und so unterblieb die ganze sache. Aber ich
fürchte, daß wir einen unwiderbringlichen Augenblick versäumt haben. Al-
lein kann ich nichts thun, ich will noch einen versuch machen, dann aber
ist mein gewissen beruhigt, egoistisch genommen ist es mir jedenfalls lieber,
wenn ich für jetzt aus dem spiele bleibe und Andere für mich die kastanien
aus dem feuer holen, wenn überhaupt noch welche zu holen sind, ich habe
im märz lange nicht so schwarz gesehen wie jetzt.
dahlmanns entwurf einer deutschen reichsverfassung ist angekommen,
ein erbliches oberhaupt mit großer centralisation, also jedenfalls weit mehr,
als wir zugeben können. sommaruga ist zurück, auch endlicher sprach ich
neulich, der fünfzigerausschuß verliert an Boden, es dürfte bald eine provi-
sorische Bundescentralgewalt errichtet werden, wodurch dann freylich die
frage sehr vereinfacht wird. unsere Aufgabe in frankfurt ist eine äußerst
schwierige, besonders weil wir die Ansichten unserer regierung nicht ken-
nen können, da wir keine regierung (jetzt sogar keinen minister des Äu-
ßern1) und diese jämmerlichen minister keine Ansichten haben. Auf den 8.
haben wir eine Zusammenkunft sämmtlicher niederösterreichischen Abge-
ordneten veranstaltet, um uns kennen zu lernen, zu besprechen und zu or-
ganisiren.
in Prag sind zuerst czechen und deutsche handgemein geworden, dann
ist es über die Juden hergegangen, und am 4. war es noch nicht ruhig, in
ungarn ist ein Bürgerkrieg vor der thür, croatien ist in vollem Aufstande
gegen die ungarn, louis Batthyány ist deßwegen hier und wollte gestern
1 Anstelle des über druck der straße zurückgetretenen graf karl ludwig ficquelmont
wurde am 8. mai frh. Johann Philipp v. Wessenberg zum Außenminister ernannt. er lebte
allerdings seit 1831 in freiburg im Breisgau und traf erst am 26. mai im revolutionären
Wien ein. Wenige tage später reiste er nach innsbruck ab, wohin der kaiserliche hof am
17. Mai geflohen war.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien