Seite - 89 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band II
Bild der Seite - 89 -
Text der Seite - 89 -
8920.
Mai 1848
dumm und ungeschickt und die sitzung eine wahre schmach für uns. end-
lich setzten wir es durch, daß provisorisch, d.h. bis zur Ausarbeitung einer
neuen geschäftsordnung der commissionsentwurf angenommen wurde, und
ebenso die noch weit wichtigere frage, daß die Wahl eines provisorischen
Präsidenten (denn daß man mit lange keine 24 stunden mehr deliberiren
könne, war Allen klar) auf heute verschoben wurde, während die linke soi-
ron durch Acclamation durchsetzen wollte.
übrigens benimmt sich soiron sehr geschickt und scheint gegen früher
mäßiger geworden zu seyn, er hält sich viel an uns und ist, was man in eng-
land a rising man nennt. er und sehr viele Andere haben sich bereits an
schmerling (welcher bereits vor einiger Zeit das lokale zum sokrates1 für
uns österreicher gemiethet hat) gewendet mit dem Wunsche, sich an uns zu
schließen, was wir natürlich mit freuden annahmen, und so ist bereits der
Anfang gemacht, daß wir oesterreicher quasi den kern der constitutionell-
monarchischen Parthey bilden. schmerling, welcher heute das Präsidium
des Bundestages übernommen hat, aber dennoch Abgeordneter bleibt, be-
nimmt sich mit vielem takte und großer sicherheit, ich hoffe, er wird bald
minister in Wien, und ich werde hier nicht sein nachfolger.
heute früh 10 uhr war sitzung, vor Allem die Präsidentenwahl, heinrich
v. gagern hatte 306 stimmen unter 397, seitdem ging Alles ganz anders, viel
rascher und geordneter, vicepräsident soiron. dann bildeten wir uns durchs
loos in 15 Abtheilungen. dieses Alles nahm sehr viele Zeit weg, so daß die
sitzung bis 7 uhr Abends dauerte. nachher begaben wir uns in unsere Ab-
thei lungen, ich gehöre zur dritten und wurde da zum vorsitzenden, herr
lagerfeld aus Braunschweig zum secretär erwählt.
heute bin ich in eine recht hübsche geräumige Wohnung gezogen, welche
ich gemeinschaftlich mit schmerling genommen habe.
vor ein paar tagen war hier ein Bäckerkrawall, der darin bestand, daß
sämmtliche Bäckergesellen nach offenbach desertirten. die armen teufels
hatten bisher 48 kreuzer rW per Woche, tag und nacht Arbeit und als Bett
die harte lade, auf der das Brod gebacken wird. Zudem mußten sie für den
Bäcker arbeiten, der sie requirirte, sie mochten wollen oder nicht. Was so
nach und nach für hübsche dinge des alten unwesens zu tage kommen!
überhaupt regt sich hier wie überall die sociale Bewegung immer stärker.
[frankfurt] 20. mai Abends
ich bin abgespannt und aufgeregt zugleich durch die nachrichten aus Wien,
schon meine gestrigen Briefe ließen mich schlimmes befürchten, heute er-
hielt ich deren eine masse. Am 15. und 16. war förmliche revolution, wie es
1 das lokal der freimaurerloge „sokrates zur standhaftigkeit“ in frankfurt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien