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Tagebücher94
in der heutigen sitzung hielt herr Zitz eine lange, maßlose, auf die galle-
rieen berechnete rede über die vorfälle in mainz, welche außerordentliche
sensation erregte.1 durch die ungeschicklichkeit unserer Partey und die
connivenz des Präsidenten wurde der Beschluß durchgesetzt, einen Aus-
schuß zu ernennen und es diesem zur Pflicht zu machen (!!), eine commis-
sion zur erhebung der sachlage nach mainz zu schicken. mich hat dieses
resultat ganz verstimmt, denn es bildet ein sehr gefährliches précédent für
ähnliche fälle und leitet uns in die Bahn des fünfzigerausschusses, welcher
auf diese Art sein Ansehen und ganze macht verlor, wir sind legislatoren,
keine Administratoren.
überhaupt ist es dringend nothwendig, daß wir uns der zwar weniger
zahlreichen, jedoch compacten und vortrefflich eingeschulten radicalen Par-
they gegenüber organisiren. Wir haben deßhalb schon mehrere Besprechun-
gen gehabt, u.a. heute Abends bey Jürgens, wo ein Antrag auf Bildung einer
provisorischen centralgewalt für deutschland ausgearbeitet wurde, welcher
dem Wesendonkschen Antrage der linken entgegegesetzt und schon mor-
gen eingebracht werden soll, wir wollen sie durch den Bundestag eingesetzt,
während jene sie aus dem schooße der nationalversammlung hervorgehen
lassen wollen. überhaupt wollen wir den Bundestag bis zur endlichen con-
stituirung deutschlands unterstützen, und es circulirt zu dem ende eine von
gagern (max) aufgesetzte erklärung, welche zugleich dazu dienen soll, die
stärke unserer Parthey kennen zu lernen.
es ist ein hundeleben, welches ich führe, unter commissionen, sitzungen
in pleno und in meiner Abtheilung, vertraulichen Besprechungen etc. ver-
geht der ganze tag, und ich komme Abends todtmatt nachhause, ein wenig
weibliche gesellschaft, wo ich von andern dingen sprechen könnte, würde
mir sehr wohl thun, doch habe ich bis jetzt keine Zeit dazu gehabt.
im herzen bin ich ziemlich dégoutirt von dem, was ich bis nun gesehen.
diese Wühlerey in und außer der kammer, diese leidenschaft und ungentle-
manlike Benehmen besonders unter den radikalen widert mich an, es ist
nichts an ihnen als gemeinheit, neid und gesinnungslosigkeit.
[frankfurt] 25. mai Abends
die sitzungen dieser 2 tage bothen verhältnißmäßig weniger interesse dar,
jedoch gaben sie das sehr erfreuliche resultat einer wachsenden organi-
sation unserer Partey, die folge unserer fortdauernden Besprechungen, es
1 Am 21. mai war es zu schweren Zusammenstößen zwischen Bürgern und den preußischen
Bundestruppen in mainz gekommen. der preußische kommandant hatte darauf die stadt
unter Belagerungszustand gestellt und mit Beschießung gedroht, falls die Bürgerwehr
nicht ihre Waffen abliefere.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien