Seite - 97 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band II
Bild der Seite - 97 -
Text der Seite - 97 -
9727.
Mai 1848
gerne mit Arnim auf einer liste stehen, am allerwenigsten wenn man weiß,
daß die idee von radowitz kömmt. diese männer der alten schule können
vorerst nichts Besseres thun, als sich zu eclipsiren. ich will es daher ableh-
nen.
in der heutigen sitzung des verfassungsausschusses (welcher gewiß eine
höchste interessante schule für mich seyn wird) wurde eine commission
(dahlmann, r. mohl und mühlfeld) zur entwerfung eines schemas niederge-
setzt, welches unsern Arbeiten als Basis dienen soll. der siebzehnerentwurf
ist in unserm Ausschusse lebhaft angefeindet, und dahlmann, der verfasser
desselben, hielt aus diesem Anlasse heute einen sehr schönen und würdigen
vortrag. ich beschränke mich vorerst aufs Zuhören, denn meine ideen sind
noch zu wenig fixirt über diesen gegenstand, und namentlich ist der Boden
noch zu ungewiß, auf dem wir oesterreicher stehen, wüßten wir, wie wir mit
unsern nichtdeutschen landsleuten zu hause stehen, also namentlich mit
den slaven, so könnten wir viel entschiedener auftreten, so aber müssen wir
laviren, und es wo möglich mit keinem von beyden verderben.
ich fühle das Bedürfniß, mich von meinen Arbeiten manchmal zu erholen,
und zwar in damengesellschaft, gestern Abend führte mich schmerling zur
gräfinn Bergen, Witwe des kurfürsten von hessen, heute Abend war ich
eine Zeitlang bey frau v. vrintz und sah da eine menge hübscher Weiber.
[frankfurt] 27. mai
heute haben wir einen schlechten tag gehabt, der ravauxsche Antrag war
an der tagesordnung, die sitzung dauerte von 10 bis 3 uhr und dann wieder
von 5 bis nach 8, es waren 32 Amendements und 4 verschiedene gutachten
der commission gestellt worden, von seite der linken (welche überhaupt
wenig capacitäten und wenig gute redner, aber um so mehr taktik und
organisation zu besitzen scheint) sprach bloß r. Blum gut, im gemäßigte-
ren sinne, aber voll kraft, logik und schärfe heckscher, von unserer seite
einige ganz brillante redner: Welcker, graf Arnim, Beckerath und vincke,
letzerer aber wieder so, als ob er sich mit aller gewalt unpopulär machen
wollte. diese leute, so wie auch lichnowsky (der übrigens mit seiner vor-
drängenden, burschikosen, aventuriermäßigen Art Alles gegen sich ein-
nimmt) brechen sich, ihrer sache und allen denen, welche mit ihnen umge-
hen, den hals, und man kann nichts Besseres thun, als sich von ihnen ferne
halten.
es waren über 90 redner eingeschrieben, daher Alles der meinung war,
die discussion werde mehrere tage dauern. ich hatte mittelst circulandum
die oesterreicher auf heute Abend in die socratesloge zur Besprechung über
das bey der Abstimmung einzuhaltende verfahren eingeladen, aber das
schicksal oder vielmehr die ungeschicklichkeit des Präsidenten verfügten
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien