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es Anders. die Bänke der rechten und des rechten centrums waren ziem-
lich schwach besetzt. niemand vermuthete, daß es zur Abstimmung kom-
men würde, viele waren weggefahren, um den morgigen sonntag auswärts
zuzubringen. da drang die linke auf schluß der debatte und Abstimmung,
und da bey unserer mangelhaften organisation viele unter uns selbst ihr
beypflichteten, so setzte sie es durch. Wir versuchten es nun noch einmal,
die vertagung auf montag durchzusetzen, aus dem grunde, weil noch kein
einziger oesterreicher über diese für uns doch so wichtige frage gesprochen
hatte, konnten aber nicht durchdringen. ravaux bestieg noch die tribüne
und forderte, um Zersplitterungen zu vermeiden, die linke auf, ihre motion
zurückzuziehen, was diese (oder eigentlich herr schaffrath) auch that, die
gallerieen tobten und lärmten dazwischen, und gagern verlor den kopf.
Beckerath zog (mir noch unbegreiflich) auf heckschers Aufforderung auch
seinen, gemäßigteren, dem wir noch allenfalls beygestimmt hätten, Antrag
zurück, und so blieb nur mehr die Wahl zwischen vinckes Antrag auf mo-
tivirte tagesordnung, für den ich und viele von uns (nicht Alle, denn auch
hier war complete desorganisation) stimmten, aber in großer minorität blie-
ben, und dem Wernerschen, welcher zwischen dem von Beckerath und dem
schaffrathschen in der mitte lag, und der dann auch durch überwiegende
mehrheit angenommen wurde. dieser Antrag sagt, daß alle Punkte der ein-
zelnen deutschen verfassungen, welche mit dem hier zu gründenden allge-
meinen verfassungswerke im Widerspruche stehen sollten, als ungültig zu
betrachten seyen. großer Jubel der linken und der gallerieen folgte dieser
Abstimmung.
Was wird die Wirkung dieses Beschlusses in oesterreich seyn? und na-
mentlich in Böhmen? wird ihnen dieses nicht ein willkommener vorwand
seyn, nun den Wiener reichstag gar nicht zu beschicken? morgen sollen
wir im verfassungsausschusse eine Proclamation oder erklärung zur Be-
ruhigung der nichtdeutschen nationalitäten im Bundesgebiethe entwerfen.
möge dieses als gegengift wirken, ich hoffe es aber kaum.
in der socratesloge war nachher noch eine heftige discussion. viele woll-
ten eine Protestation gegen den Beschluß aufsetzen. Andere übermorgen bey
verlesung des Protocolles die Bemerkung einschalten lassen, daß man un-
geachtet des Begehrens der oesterreicher, einigen von ihnen auch noch das
Wort zu gestatten, ohne sie zu hören zur Abstimmung geschritten sey, die
liberalen unter uns freuten sich, ich ärgerte mich im stillen, denn ich sah,
daß wir Alle, und so auch ich, an parlamentarischer gewandtheit noch viel
zu lernen haben. die liberalen, oder eigentlicher zu sprechen ultra-deut-
schen machten vielen von uns, und namentlich mir, den vorwurf, daß wir zu
viel mit den Altpreußen hielten und uns dadurch die sympathieen der ver-
sammlung, welche die Preußen überhaupt nicht leiden kann, entfremdeten,
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien