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Mai 1848
daß wir mit lichnowsky, vincke und ähnlichen ausgeschrieenen Aristokra-
ten zusammen hielten etc. ein Abgeordneter sagte mir, wie leid es ihm thue,
daß ich, der immer für einen liberalen mann gegolten, nunmehr diesen ruf
zu verlieren anfinge etc.
es leidet keinen Zweifel, daß unsere stellung an einen Wendepunkt ge-
kommen ist, und daß wir es uns reiflich überlegen müssen, welches verfah-
ren wir einschlagen sollen, um halt zu gewinnen. darüber muß ich nun reif-
lich nachdenken und will dann ganz offen mit einigen führern des linken
centrums (z.B. mathy, soiron etc.) sprechen, ich habe bereits diesen Abend
im englischen hofe mit meinem freunde Jürgens, einem der gescheidtesten
ruhigsten, klarsten köpfe in der versammlung, den Anfang gemacht. es ist
nicht zu läugnen, daß ich, und viele von uns, uns bisher zu sehr mit der äu-
ßersten rechten faufilirt haben. Wie gesagt, ich betrachte das ganze hier als
eine Art parlamentarische vorschule für mich.
Aus innsbruck schlechte nachrichten. der kaiser scheint wirklich in den
händen einer reactionären Parthey zu seyn. Bombelles gilt jetzt Alles!!! das
wäre der sicherste Weg zum verderben. der kaiser hat ein manifest erlas-
sen, worin er die geschenke (wenn man sie so nennen kann) des 15. may
implicite widerruft. er hat die minister und das diplomatische corps zu sich
nach innsbruck berufen. der Abgang dieses handbillets ist aber noch aufge-
halten worden. doblhoff ist von Wien nach innsbruck abgereist.
in linz soll am 7. kommenden monats eine Art vorparlament der deut-
schen Provinzen zusammentreten, von den oberösterreichern berufen, was
dieses soll, ist mir noch nicht klar, es scheint sich eine schilderhebung der
Provinzen gegen die residenz vorzubereiten.
heute haben schmerling und ich ein von mir verfaßtes schreiben an den
erzherzog franz carl gerichtet, worin wir bitten: daß der kaiser von dem,
was er versprochen, nur ja nichts zurücknehme, daß er den erzherzog franz
carl zum mit-regenten annehme, und daß dieser sodann schleunigst nach
Wien zurückkehre. Wie dieses schreiben in innsbruck bey der jetzt dort
herrschenden stimmung aufgenommen werden wird, ist mir noch zweifel-
haft, jedenfalls haben wir unsere schuldigkeit gethan.
[frankfurt] 29. mai Abends
Wir haben heute und gestern im verfassungsausschusse über marek’s
Antrag wegen erlassung einer Proclamation an die slaven in oesterreich
zur Beruhigung ihrer etwaigen Befürchtungen hinsichtlich ihrer natio-
nalität berathen und uns nach langweiligen debatten über strichpunkte
und kommas in einem ganz magnifiquen entwurfe dahlmann’s geeignet
[sic], welcher nicht als Proklamation, sondern als erklärung der natio-
nalversammlung angetragen werden soll. Wir wünschen, daß dabey jede
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien