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Tagebücher124
[frankfurt] 27. Juni
heute im Anfang der sitzung lag eine Art katzenjammer und schaam über
der versammlung. gagern ging vor der eröffnung im saale herum und par-
lamentirte mit allen Parteyen, er wollte als einzigen Ausweg aus dem ge-
zänke, in welches wir uns gestern verfahren hatten, die sogleiche Wahl und
Acclamation erzherzog Johanns vorschlagen. das stieß aber auf beyden
extremen seiten auf Widerspruch (so wenig auch Beyde gegen die Wahl des
erzherzogs zu haben scheinen), und so bestieg er dann gleich im Anfange
der sitzung die tribüne, um in eindringlichen Worten zum frieden und zur
einheit zu mahnen. heckscher (welcher trotz seines scheinbaren eigen-
sinns nun in 2 tagen 3mal entschluß gewechselt hat, noch gestern Abend
im Weidenbusch hatte er erklärt, er könne nach dem, was vorgefallen, sein
Amendement durchaus nicht zurücknehmen) ließ durch gagern eine Art
erläuterung seiner gestrigen Ausdrücke verlesen und nahm dann seinen
Antrag zurück, ebenso Auerswald, dasselbe that die linke, und Blum hielt
eine in seiner Art geschickte perfide Versöhnungsrede, seiner Partey Alles
verdienst zuschiebend. die gallerieen (von denen man sich heute großes
skandal erwartete, die Bürgerwehr war ausgerückt, ja sogar eine compa-
gnie militär vor der Paulskirche aufgestellt, welche aber gagern abziehen
ließ) waren ziemlich ruhig, nicht so die linke, die wieder bey jedem Anlasse
tobte und schrie, was bey ihr jetzt förmlich einzureißen scheint, zum theile
mag wohl auch die wirklich schlechte Präsidentschaft soirons schuldseyn.
Bey der discussion über die fragestellung war es ein paarmal wieder
hart daran, zu einem sturme wie der gestrige zu kommen. gagern bestieg
ein paarmale die tribüne, um zu vermitteln, hatte aber wenig erfolg, über-
haupt war diese ganz debatte keine glückbringende für ihn, noch weni-
ger aber für soiron, welcher mich oft herzlich dauert. endlich kam es zur
punktweisen Abstimmung, wir hatten heute nicht weniger als 5 nament-
liche Abstimmungen, was bis 1/2 6 dauerte. das resultat ist im ganzen
ein solches, womit ich ganz zufrieden bin: die vollziehung der Beschlüsse
der nationalversammlung wurde, zwar nur mit schwacher majorität, ab-
gelehnt, dagegen mit sehr großer das Wort „reichsverweser“ statt „Präsi-
dent“ angenommen, was eine sehr wichtige, monarchische Bedeutung hat,
endlich die Wahl des reichsverwesers durch die nationalversammlung an-
genommen, letzterer Beschluß ist die einzige der linken gemachte conces-
sion, welche aber dadurch geschwächt wird, daß gleich bey Zurücknahme
des heckscherschen Amendemens die rechte mit der linken ausdrück-
lich dahin übereingekommen war, für jene fassung zu stimmen, aber ihre
motive, das vertrauen in die Zustimmung der regierungen, zu Protokoll
niederzulegen. ich stimmte dessenungeachtet mit nein, in allen andern
Punkten aber mit der majorität. trotzdem bin ich selbst mit diesem letzten
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien