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mittlerweilen scheinen die slaven am reichstage in Wien allmälig die
Oberhand zu gewinnen, doch wird derselbe offiziell erst am 22. eröffnet.
der kaiser oder erzherzog franz carl dürften dann doch nach Wien zu-
rück kommen, jedoch scheint es schon ganz ausgemacht, daß im August,
wenn erzherzog franz Joseph majorenn wird, Beyde zu dessen gunsten
abdiciren werden. Ich flehe zu Gott, daß damit etwas gewonnen seyn möge,
denn im entgegengesetzten falle haben wir dann eine zweyte revolution
zu gunsten der jüngeren linie, d.i. erzherzog Johanns, und dann vielleicht
den Zerfall der monarchie.
erzherzog Johann hat hier, sehr kluger Weise, auf jede civilliste ver-
zichtet, und wir, d.h. das Bureau haben von der nationalversammlung den
Auftrag erhalten, ihm ein Palais zu nehmen und zur verfügung zu stellen,
wir haben dann das mülhens’sche haus genommen.1
seit 2 tagen beschäftigt uns die debatte über die einverleibung des
deutschen theiles von Posen in den deutschen Bund, die linke ist da wie-
der entschieden dagegen (aus sympathie für die Polen als unruhestifter
und faiseurs de barricades durch ganz europa, und aus connivenz mit
frankreich). Jordan von Berlin, von der äußersten linken, aber dießmal
sich zu ihrem großen Ärger von ihr trennend, hielt gestern eine brillante
und ganz staatsmännische rede gegen die polnischen machinationen. das
resultat der Abstimmung ist nicht zweifelhaft, obwol es geschehen dürfte,
daß ein theil der ultramontanen dießmal mit der linken stimmen wird,
wie sich auch schon einige stimmen im katholischen, d.i. polnischen sinne
gegen das protestantische Preußenthum haben vernehmen lassen, wiewol
radowitz sie im nahmen der nationalität davon abzuhalten versuchte.
im übrigen wird die haltung der versammlung immer fester, besonne-
ner und würdiger, selbst die leidenschaftlichsten suchen sich einer gewis-
sen Mäßigung zu befleißen, denn die Versammlung imponirt ihnen. Auch
die gallerieen sind jetzt ganz anders als früher. das Ansehen der ver-
sammlung steigt in ganz deutschland, und ich wünsche jetzt im interesse
der deutschen sache nur das, daß der gegenwärtige Zustand sich so lange
als möglich erhalte. die provisorische centralgewalt muß sich in das volk
hineinwachsen und wird in diesem falle mit jedem monathe mächtiger
werden und den Übergang zu einer définitiven Gestaltung im constitutio-
nellmonarchischen sinne immer unmerklicher anbahnen. daher wünsche
ich auch, daß die nationalversammlung als die stärkste stütze der cen-
tralgewalt solange als möglich beysammen bleibe, daher ich auch gegen die
weitschweifige Berathung der Grundrechte, wie wir sie vor uns haben, jetzt
1 das 1803–1806 für den frankfurter Bankier mülhens errichtete haus in der großen
eschenheimer str. 74, 1943/44 zerstört.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien