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ich) gegen 101 stimmen verworfen ward, wohl der härteste schlag, den die
Polen, welche sonst immer alle weinerlichen sympathien in europa für sich
zu haben pflegten, seit 1830 erlitten haben. Die Polensympathie scheint in
deutschland für immer erloschen, und das ist recht, ihr infames spiel als
hetzer in ganz europa trägt seine früchte, als nation waren die kerls oh-
nehin nie einen schuß Pulver werth. der französische gesandte savoye, ein
nichtsnutziger kerl, der mit Blum & c. unter einer decke steckt, war bey
der ganzen debatte von Anfang bis zu ende als aufmerksamster Zuhörer
zugegen.
vorgestern erregte noch der hundsfott Arnold ruge einen sturm in der
kammer, indem er den Wunsch ausdrückte, daß radetzky geschlagen und
die italiener frey würden. gagern verwies ihm dieß gesinnungslose Beneh-
men mit einigen würdigen Worten, nach meiner Ansicht hätte er dem kerl
das Wort entziehen müssen, ich konnte meiner entrüstung den ganzen tag
über nicht herr werden. heyden aus oberoesterreich ließ ihn fordern, was
der schuft natürlich ablehnte, nun wird die correspondenz gedruckt wer-
den.
nächster tage ist Präsidentenwahl, und da haben wir ausgemacht, daß
dießmahl ein Preuße, und zwar wohl Beckerath, vicepräsident an mei-
ner stelle werden soll,1 ich werde sehr froh seyn, los zu kommen und doch
mehr mein eigener herr zu werden. Auch gefällt mir die ganze geschichte
nicht mehr recht, ich fürchte, wir gehen einem großen fiasco entgegen, in
Preußen werden die dinge immer bedenklicher, das Preußenthum immer
stärker, mit unsern ministern ist es auch nicht weit her, und die national-
versammlung hält sich für mächtiger, als sie es wirklich ist, und schneidet
keck ins fleisch des volks hinein ohne zu bedenken, welche opposition sie
hervorruft.
übrigens herrscht in der linken große scission, sie hat ihr letztes Pul-
ver verschossen, überhaupt war ihr ganzes Benehmen seit dem 18. may
eine reihe von ungeschicklichkeiten: spaltungen in ihrer mitte, ihr ewiges
pöbelhaftes lärmen, dann einzelne höchst ungeschickte redner aus ihrer
mitte, wie ruge, martini, schaffrath etc., endlich ihre ganze so sichtlich
auf Aufregung berechnete taktik mußten ihr in der öffentlichen meinung
den hals brechen und haben es auch gethan. heute früh war die leiche
des Abgeordneten dr. Wirth (von 1831 her bekannt2), und Blum hielt eine
1 Bei der neuwahl des Präsidiums am 31.7.1848 wurde kein preußischer Abgeordneter an-
stelle Andrians zum 2. vizepräsidenten gewählt, sondern mit großer mehrheit der Bayer
friedrich hermann.
2 der aus Bayern stammende Journalist und Publizist Johann Wirth, Abgeordneter für
reuss-schleiz, war am 26.7.1848 in frankfurt gestorben. er war ein führender vertreter
der bayerischen liberalen opposition 1831. Wegen seiner rolle am hambacher fest wurde
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien