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seite der linken sogar auf einen ordnungsruf gegen die rechte, als nun
soiron, hieran anknüpfend, nach einigen energischen Worten über die ge-
strige scene (welche übrigens dadurch, daß er sie las, viel von ihrer Wir-
kung verloren) Brentano zur ordnung rufen wollte, erhob die linke und
die gallerieen ein wüthendes geschrey, während wir stumm und ruhig da
saßen. nachdem dieses toben etwa 10 minuten gedauert hatte, suspen-
dirte soiron die sitzung bis 11 uhr. Als wir dann um 11 uhr wieder zu-
sammenkamen, sprach soiron seinen ordnungsruf aus, und als sich der
lärm von früher noch ärger wiederholte, ließ er die gallerieen, es geschah
dieß zum erstenmale, räumen, was viel Zeit wegnahm, indem die leute
lange nicht fort wollten, und gagern und hermann selbst hinauf mußten,
um sie zum fortgehen zu bringen. Als nun die sitzung fortgesetzt wurde,
wurde zuerst ein Antrag der linken auf Wiederzulassung des Publikums in
namentlicher Abstimmung verworfen, dann, nach einer hitzigen debatte,
in derselben Weise die Amnestiefrage verneint.1 indessen hatte es drau-
ßen einen krawall gegeben und blutige köpfe. die leute, meist mainzer
und hanauer herbeygeholtes gesindel unter metternichs leitung, sangen
das hecker lied2 etc. militär und Bürgerwehr mußten ausrücken und die
straßen absperren. Beym herausgehen wurde lichnowsky auf der straße
ausgepfiffen, und ich und noch ein paar Andere gingen mit Soiron, weil wir
für ihn (der übrigens heute und gestern so schlecht wie nur immer möglich
praesidirte) Ähnliches erwarteten, was aber nicht geschah. heute Abend
gab es ein paar katzenmusiken. morgen ist keine sitzung. dagegen über-
morgen kömmt die frage wegen heckers Zulassung vor,3 und gott weiß,
was da geschieht, denn die stadt wimmelt von verdächtigem gesindel.
daß diese ganze Begebenheit auf den Particularismus in Preußen noch
mehr aufregend einwirken wird, ist gewiß. gagerns Benehmen dabey hat
mir nicht gefallen, mir gefällt überhaupt der ganze mann nicht, ein leder-
ner enthusiast, ein staatsmann eines duodezfürstenthümchens und mit
1 der Ausschussantrag, über die Petitionen zur Amnestie von wegen politischer delikte in
Untersuchung befindlichen Deutschen zur motivierten Tagesordnung überzugehen, wurde
in namentlicher Abstimmung mit 317 zu 90 stimmen (bei 9 enthaltungen und 155 Abwe-
senden) angenommen, Andrian stimmte mit der majorität.
2 von mehreren auf friedrich hecker verfassten revolutionsliedern ist das bekannteste: „es
klingt ein Name stolz und prächtig / Im ganzen deutschen Vaterland; / Und jedes Herz er-
zittert mächtig, / Wenn dieser name wird genannt. / ihr kennt ihn wohl, den edlen mann: /
es lebe hecker! stoßet an!“ nach Aufruf zur fortsetzung des kampfes („die losung bleibt:
tod oder sieg!“) und zur Beseitigung der feigen versammlungen und jener lumpen, die ihn
im Stich ließen, lautet die letzte Strophe: „Die Freiheit ist noch nicht verloren; / Bald in des
ruhmes flammenschein / Zieht er bei festgeschmückten toren / im vaterlande wieder ein.
/ und allerwärts ertönt es dann: / es lebe hecker! stoßet an!“
3 vgl. dazu eintrag v. 16.6.1848.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band II
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- II
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 716
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien