Seite - 107 - in Über die Produktion von Tönen - Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
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stellen. Demgemäß wurde das eigene Leben auch nicht als Familien- oder Frei-
zeitleben mit zeitweisen Erwähnungen musikalischer Auftritte erzählt, sondern als
vor allem und beinahe ausschließlich musikalisches, wie es schon die musikalischen
Titel der Erzählungen
– „Ein Leben mit der Gitarre“, „Aus dir wird nie ein Pianist“
etc. – ankündigten. Zu einem musikalischen Leben gehörte nicht nur das aktive
Musizieren, sondern auch der Besuch der Oper und der Besuch von Konzerten
(weniger wichtig: der Besuch von Varietés). KünstlerInnen erzählten aber nicht nur
viel, sondern auch ausführlich über Musik. Musizieren wurde nicht nur in wenigen
Sätzen nebenbei erwähnt, sondern in Details und Anekdoten ausgebreitet. Nicht
nur, dass musiziert wurde, sondern auch, wie dieses Musizieren organisiert und erlebt
wurde, fand in die Erzählungen Eingang: Musizieren als Erlebnis, das verschiedene
Emotionen
– wie etwa Freude oder Mühsal
– hervorrief. Vorausgesetzt wurde dabei,
dass der/die (zeitgenössische) LeserIn Interesse an einer derartigen Form der Erzäh-
lung hatte, dass also das eigene musikalische Erleben von Interesse war. Es handelt
sich um Memoiren, die publiziert wurden, um Erzählungen von großen Menschen
und deren großen Taten, um das Tun erfolgreicher und bekannter Musizierender.33
Hingegen schrieben die sich negativ auf Kunst beziehenden Erzählenden von
ihnen so bezeichnete Lebensläufe – der Begriff verweist bereits auf die standar-
disierte Erzählform und den ‚gewöhnlichen‘ Charakter der handelnden Person.34
Sie waren sich durchaus bewusst, dass ihr musikalisches Handeln nicht auf das
große Interesse eines breiten Publikums stoßen würde und ihre Erzählungen nur
von ihrem unmittelbaren Umfeld gelesen werden würden – oder von volkskund-
lichen ForscherInnen, die bei vielen Texten auch an der Produktion beteiligt waren,
deren Mitwirken aber gerade dadurch, dass ihre Forschung eben keine (im engeren
Sinne) musikwissenschaftliche war, auf die mangelnde musikalische Anerkennung
des Musizierens verwies. So schrieb z. B. Adolf Sohm in der Einleitung zu seiner
mit „Mein Lebenslauf“ betitelten Erzählung: „Nicht ganz leichten Herzens komme
ich Ihrem Wunsche nach. Ich zweifle, ob ich in die Vorarlberger Musikgeschichte
hineingehöre.“ 35 Dementsprechend wurde diesen Erzählungen auch oftmals kein
Titel vorangestellt. Diese Positionierung als unbekannter/unbekannte Musizieren-
der/Musizierende ist jedoch nicht nur als Mangel zu verstehen: Das Musizieren-
wie- jeder- andere konnte auch als Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verstanden
33 Zum Vergleich zwischen Bekanntheit und Anerkennung beim breiten Publikum oder bei
KollegInnen und anderen KunstexpertInnen siehe Bourdieu, Regeln, 345.
34 Vgl. zu Hinweisen auf Individualität in Autobiografien und Kontrastformen dazu Bergmann,
Lebensgeschichte, 70 ff.
35 Vorarlberger Landesarchiv, Musiksammlung, Biographische Sammlung, Adolf Sohm, Mein
Lebenslauf, 1. Künstler und Individuum als Gegensatz zur Dorfgemeinschaft 107
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur