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Endre
Hárs102
A kis királyok, 1885) z.B. den Nachwuchs des Decebál Tanussy, die »schöne Emma«,
vor:
Schön-Emma war ein schlankes, für seine Jahre hochgewachsenes Kind, nicht mehr viel klei-
ner als die Mutter, und ihr Gesicht war eine genaue Kopie des mütterlichen, nur die Nase,
gerade und gleichmäßig wie die des Vaters, bewahrte die Urform des Thonuzóba-Clans. Das
Kind mochte zwölf oder dreizehn Jahre zählen. Es trug einen bis an die Knöchel reichenden
Rock mit geblümtem Volant, dazu eine anliegende Bluse mit einer Halskrause aus Spitzen.
[…] Im Augenblick stand sie mit niedergeschlagenen Augen und schmollend gespitztem
Mund da. Jeder Zug dieses Gesichts verriet das verwöhnte Kind. [Muhme] Dorkó hatte es
nicht leicht mit der schönen Emma, die sich keine Sekunde ruhig hielt und der Alten, sooft
sich für sie eine Gelegenheit dazu bot, einen Tritt versetzte. […]
»Jaj, meine Haare!« schrie das Kind auf.
»Na, du Blümchen Rührmichnichtan! Ich muß nur noch das Band um dein Haar binden.« […]
Sie wandte das Kind zu sich herum und begann zu probieren, in welcher Anordnung die Zöpfe
am vorteilhaftesten wären. Hinter den Ohren oder vor den Ohren aufgesteckt?11
Es wird zwar bald klar, dass Emma »nur der Kosename des jungen Emanuel«
(S. 87) ist; auf die Frage allerdings, wessen »absonderliche Idee« es war, »einen
dreizehn Jahre alten Burschen in Mädchenkleidern herumlaufen, sein Haar lang
wachsen zu lassen und in Zöpfe zu flechten« (ebd.), erhält man die Antwort erst
einiges später, und auch dann bleibt noch die Mutter im Verdacht, es mehr mit
einer »närrische[n] Verstiegenheit« (ebd.)12 als mit Strategie (etwa der Umgehung
des Militärdienstes) zu tun zu haben: »›Na gut. Geh jetzt, Emmachen, mein Engel,
in den Garten spielen. – Du, Jancsi! […] Führe Emma in den englischen Garten spa-
zieren. Dann spiele mit ihr. […] Nimm dieses Seidentuch mit. Wenn sich ein Wind
aufmacht, lege es ihr um den Hals, und knüpfe es hinten zusammen.‹« (S.
84) Das
müsste nicht sein und dennoch bleibt die Illusion und die Regel, »Emma« statt
»Emanuel« zu sagen (und in der deutschen Fassung über »sie« zu sprechen), selbst
vom Erzähler so lange aufrechterhalten, bis der Junge nach einer letzten Demüti-
gung, einem »Ekzament« (S. 158) – bei dem »Emmachen« vor der Männergesell-
schaft demonstrieren sollte, was eine Frau gelernt haben darf – selbst die Initiative
ergreift und den Weg betritt, der ihn zum ideellen Helden des Romans (und dann
eben auch zum Mann) werden lässt: »Wie gern wäre er aus dieser Welt wieder
herausgeboren worden. […] ›Diese Zöpfe müssen weg. Ich lege sie auf das Kissen
meines Bettes neben das schöne rote Kleid. Hier ruht Fräulein Emma, die Erde sei
ihr leicht.‹« (S. 177-179, Hervorhebung i.O.)13
11 | Jókai, Mór: Die Kleinkönige. Übers. v. Bruno Heilig. Leipzig: Paul List 1965, S. 82-83.
12 | Über ihre abergläubischen Gründe berichtet sie später selbst, vgl. S. 103. Emmas
Sozialisation verläuft unter der Leitung des Herrn Kajafár Horkázi, des (übrigens falschen)
Hausschamanen von Decebál Tanussy, entsprechend katastrophal: »Bis zu ihrem zehnten
Lebensjahr hatte man Emmachen nichts lernen lassen, damit ihr Wachstum nicht beein-
trächtigt werde, und da sie jetzt erst dreizehn wurde, konnte man von ihr wirklich nicht ver-
langen, daß sie alle Buchstaben des Alphabets hintereinander hinschreiben konnte […].«
(S. 123)
13 | Der erste Satz des Zitats fehlt in der Übersetzung von Heilig und wurde hier von mir
ins Deutsche übertragen. »Herausgeboren« klingt im Ungarischen ebenso befremdend wie
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur