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weiß, tun. Denn ein Fürst ist gleichsam ein nie versiegender Quell, von dem
sich ein Sturzbach alles Guten und Bösen auf das ganze Volk ergießt. Dein
theoretisches Wissen aber ist so vollkommen, daß du gar keine große
praktische Erfahrung nötig hast, und deine Lebenserfahrung anderseits so
groß, daß du gar kein theoretisches Wissen brauchst, um einen
ausgezeichneten Ratgeber jedes beliebigen Königs abzugeben.«
»Da befindest du dich in einem doppelten Irrtum, mein lieber Morus«,
erwiderte Raphael, »einmal hinsichtlich meiner und sodann hinsichtlich der
Sache selbst. Ich besitze nämlich gar nicht die Fähigkeit, die du mir
zuschreibst, und auch wenn ich sie im höchsten Grade besäße, würde ich doch
selbst durch den Verzicht auf meine Muße den Interessen des Staates in
keinerlei Weise dienen. Erstens nämlich beschäftigen sich die Fürsten selbst
alle zumeist lieber mit militärischen Dingen, von denen ich nichts verstehe
und auch nichts verstehen möchte, als mit den segensreichen Künsten des
Friedens, und weit größer ist ihr Eifer, sich durch Recht oder Unrecht neue
Reiche zu erwerben als die schon erworbenen gut zu verwalten. Ferner ist von
allen Ratgebern der Könige jeder entweder in Wahrheit so weise, daß er den
Rat eines anderen nicht braucht, oder er dünkt sich so weise, daß er ihn nicht
gutheißen mag. Dabei pflichten sie unter schmarotzerischen Schmeicheleien
den ungereimtesten Äußerungen derer bei, die bei dem Fürsten in höchster
Gunst stehen und die sie sich deshalb durch ihre Zustimmung verpflichten
wollen. Und gewiß ist es ganz natürlich, daß einem jeden seine eigenen
Einfälle zusagen. So findet der Rabe ebenso wie der Affe am eigenen Jungen
seinen Gefallen. Wenn aber jemand im Kreise jener Leute, die auf fremde
Meinungen eifersüchtig sind oder die eigenen vorziehen, etwas vorbringen
sollte, das, wie er gelesen hat, zu anderer Zeit vorgekommen ist oder das er
anderswo gesehen hat, so benehmen sich die Zuhörer gerade so, als ob der
ganze Ruf ihrer Weisheit gefährdet wäre und als ob man sie danach für
Narren halten müßte, wenn sie nicht imstande sind, etwas zu finden, was sie
an dem von den anderen Gefundenen schlecht machen können. Wenn sie
keinen anderen Ausweg wissen, so nehmen sie ihre Zuflucht zu Redensarten
wie: So hat es unseren Vorfahren gefallen; wären wir doch ebenso klug wie
sie! Und nach einem solchen Ausspruch setzen sie sich hin, als hätten sie
damit die Sache völlig und trefflich erledigt. Gerade als ob es eine große
Gefahr bedeutete, wenn sich jemand dabei ertappen läßt, in irgend etwas
gescheiter zu sein als seine Vorfahren! Und doch lassen wir alle ihre guten
Einrichtungen mit großem Gleichmut gelten; wenn sie aber bei irgend etwas
hätten klüger zu Werke gehen können, so ergreifen wir sofort gierig diese
Gelegenheit und halten hartnäckig daran fest. Das ist auch die Quelle dieser
hochmütigen, sinnlosen und eigensinnigen Urteile, auf die ich schon oft
gestoßen bin, besonders aber auch einmal in England.«
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Buch Utopia"
Utopia
- Titel
- Utopia
- Autor
- Thomas Morus
- Datum
- 1516
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 106
- Schlagwörter
- Utopie, Staat, Religion
- Kategorien
- Weiteres Belletristik