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wahre Glückseligkeit zu erforschen.
Diese Grundsätze sind folgende: Die Seele ist unsterblich und durch die
Güte Gottes zur Glückseligkeit geschaffen; für unsere Tugenden und guten
Werke erwarten uns nach diesem Leben Belohnungen, für unsere Missetaten
aber Strafen. Diese Anschauungen sind zwar religiöser Natur, aber nach
Ansicht der Utopier führt schon die Vernunft dazu, an sie zu glauben und sie
zu billigen. Nach Beseitigung dieser Grundsätze, so erklären sie ohne jedes
Bedenken, wird niemand so töricht sein zu meinen, er dürfe dem Vergnügen
nicht auf jede Weise, auf rechte und unrechte, nachjagen. Nur müsse man
sich, so erklären sie weiter, davor hüten, ein größeres Vergnügen durch ein
kleineres beeinträchtigen zu lassen oder einem Vergnügen mit schmerzhaften
Rückwirkungen nachzugehen. Denn den dornenvollen und beschwerlichen
Pfad der Tugend zu wandeln und dabei nicht bloß auf des Lebens
Annehmlichkeiten zu verzichten, sondern auch den Schmerz freiwillig zu
ertragen, und zwar ohne Aussicht auf irgendwelchen Gewinn – was könnte
nämlich wohl auch der Gewinn sein, wenn man nach dem Tode nichts
erreichen soll, nachdem man dieses ganze Leben freudlos, also jämmerlich,
zugebracht hat? – das ist in den Augen der Utopier das Sinnloseste, was es
geben kann. Nun liegt aber nach ihrer Meinung das Glück nicht in jeder Art
von Vergnügen, sondern nur in einem rechtschaffenen und ehrbaren; zu
diesem nämlich, als zu dem höchsten Gut, zieht, so sagen sie, die Tugend
selbst unsere Natur hin, während nach Ansicht der Gegenpartei einzig und
allein die Tugend unser Glück bedingt. Die Tugend besteht nämlich, wie die
Utopier meinen, in einem naturgemäßen Leben, sofern uns Gott dazu
geschaffen hat; naturgemäß aber lebt der, der in allem, was er begehrt und
meidet, den Geboten der Vernunft gehorcht. Die Vernunft entfacht ferner im
Menschen vor allem anderen die ehrfurchtsvolle Liebe zur göttlichen
Majestät, und dieser verdanken wir es ja, daß wir sind und an der
Glückseligkeit teilnehmen dürfen. Sodann mahnt uns die Tugend und regt uns
dazu an, ein möglichst sorgenfreies und frohes Leben zu führen und allen
unseren Mitmenschen, entsprechend unserer natürlichen Gemeinschaft mit
ihnen, zur Erreichung des gleichen Zieles zu verhelfen. Denn noch nie ist
jemand ein so finsterer und strenger Anhänger der Tugend und entschiedener
Feind des Vergnügens gewesen, daß er von dir Anstrengungen, Nachtwachen
und Kasteiungen verlangte, ohne nicht gleichzeitig dir aufzugeben, die Not
und das Ungemach anderer nach Kräften zu lindern, und ohne es nicht im
Namen der Menschlichkeit für lobenswert zu halten, daß ein Mensch dem
anderen Heil und Trost spendet. Wenn nun die höchste Menschlichkeit darin
besteht – und keine Tugend ist dem Menschen eigentümlicher –, den Kummer
der Mitmenschen zu lindern, ihre Traurigkeit zu beheben und in ihr Leben
wieder die Freude, das heißt das Vergnügen, zu bringen, wie sollte da nicht
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Buch Utopia"
Utopia
- Titel
- Utopia
- Autor
- Thomas Morus
- Datum
- 1516
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 106
- Schlagwörter
- Utopie, Staat, Religion
- Kategorien
- Weiteres Belletristik