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Vergnügen dieser Art also sind nach Ansicht der Utopier nicht zu schätzen,
soweit sie nicht zum Leben notwendig sind. Doch haben sie auch an ihnen
ihre Freude und erkennen dankbar die Liebe der Mutter Natur an, die ihre
Kinder mit den verlockendsten Lustgefühlen zu den für sie immer wieder
lebensnotwendigen Verrichtungen anspornt. Wie würde uns nämlich unser
Leben anekeln, wenn wir ebenso wie die übrigen Krankheiten, die uns
seltener befallen, auch diese täglichen Erkrankungen an Hunger und Durst
durch Gifte und bittere Arzneien bekämpfen müßten! Was dagegen Schönheit,
Stärke und Gewandtheit anlangt, so hegen und pflegen die Utopier sie mit
Vorliebe als eigentliche und willkommene Gaben der Natur. Als eine Art
angenehme Würze des Lebens schätzen sie auch diejenigen Genüsse, die uns
Auge, Ohr und Nase vermitteln und die die Natur ausschließlich für den
Menschen, und zwar in besonderer Weise, geschaffen hat; denn keine andere
Gattung von Lebewesen hat ein Auge für die Schönheit des Weltgebäudes
oder wird irgendwie von Wohlgerüchen angenehm berührt, soweit sie nicht
ihre Nahrung danach unterscheiden, oder hat ein Gehör für die verschiedenen
Abstände harmonischer und dissonierender Töne. Bei allen diesen Genüssen
aber sehen die Utopier darauf, daß nicht ein kleinerer einem größeren im
Wege ist und daß niemals ein Vergnügen den Schmerz im Gefolge hat, was,
wie sie meinen, notwendig bei einem nicht ehrbaren Vergnügen der Fall ist.
Den Reiz der Schönheit dagegen zu verachten, die Kräfte zu schwächen, die
Beweglichkeit zu Trägheit werden zu lassen, seinen Körper durch Fasten zu
erschöpfen, seiner Gesundheit Gewalt anzutun und auch sonst von den
Lockungen der Natur nichts wissen zu wollen, es sei denn, daß man sein
Glück nur deshalb nicht wahrnimmt, um desto eifriger für das Wohl seiner
Mitmenschen oder für das des Staates besorgt zu sein – eine Mühe, für die
man als Entschädigung eine größere Freude von Gott erwartet –, aber sich zu
kasteien, ohne jemandem zu nützen, sondern lediglich um eines nichtigen
Schattens von Tugend willen oder um Mißgeschick, das einem aber vielleicht
niemals widerfährt, leichter zu ertragen: das ist, so meinen die Utopier, ganz
widersinnig, eine Grausamkeit gegen sich selbst und der bitterste Undank
gegen die Natur; denn dadurch verzichtet man auf alle ihre Wohltaten, gleich
als ob man es verschmähte, ihr irgendwie zu Dank verpflichtet zu sein.
Das ist die Ansicht der Utopier über die Tugend und das Vergnügen, und,
wie sie glauben, kann man keine finden, mit der menschliche Vernunft der
Wahrheit näher kommt, es müßte denn sein, daß eine vom Himmel gesandte
Religion einem Menschen noch frömmere Gedanken eingibt. Ob sie damit
recht oder unrecht haben, können wir aus Mangel an Zeit nicht genau
untersuchen, auch ist das gar nicht nötig; denn wir haben es ja nur
unternommen, von ihren Einrichtungen zu erzählen, nicht aber diese in
Schutz zu nehmen. Wie es sich aber auch mit den angeführten Grundsätzen
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Buch Utopia"
Utopia
- Titel
- Utopia
- Autor
- Thomas Morus
- Datum
- 1516
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 106
- Schlagwörter
- Utopie, Staat, Religion
- Kategorien
- Weiteres Belletristik