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ist der Stoff nicht ebenso wertvoll. Die Gewänder sind nämlich nicht mit Gold
gestickt oder mit seltenen Steinen besetzt, sondern aus einzelnen Vogelfedern
so geschickt und kunstvoll gearbeitet, daß auch der kostbarste Stoff dieser
Arbeit an Wert nicht gleichkommen würde. Wie es außerdem heißt, sind in
jenen Schwung- und Flaumfedern sowie in ihrer bestimmten Anordnung,
durch die sie auf dem Priestergewande unterschieden werden, gewisse
geheime Mysterien verborgen. Ihre Auslegung ist den Priestern bekannt und
wird von ihnen gewissenhaft weiter überliefert; die Menschen sollen dadurch
an die Wohltaten erinnert werden, die ihnen Gott erweist, an den Dank, den
sie ihm dafür schulden, und an die Pflichten, die sie gegenseitig zu erfüllen
haben.
Sobald sich der Priester in diesem Ornat vor dem Allerheiligsten zeigt,
werfen sich alle sofort voll Ehrfurcht zu Boden unter so allgemeinem und
tiefen Schweigen, daß schon der bloße Anblick dieses Vorgangs eine Art
Schauer einflößt, als wenn eine Gottheit zugegen wäre. Sie bleiben eine Weile
liegen und erheben sich erst, wenn ihnen der Priester ein Zeichen gibt. Dann
singen sie Gott zu Ehren Hymnen, wozu sie zwischendurch auf
Musikinstrumenten spielen. Diese haben zu einem großen Teile eine andere
Gestalt als die, die man in unserem Erdteil zu sehen bekommt. Die meisten
von ihnen übertreffen zwar die bei uns gebräuchlichen wesentlich an
Wohlklang, doch sind einige mit den unsrigen nicht einmal zu vergleichen. In
einer Beziehung jedoch sind uns die Utopier unzweifelhaft weit voraus, darin
nämlich, daß all ihre Musik, und zwar die Instrumentalmusik ebenso wie die
Vokalmusik, die natürlichen Seelenzustände deutlich nachahmt und
widerspiegelt, daß der Klang sich dem Inhalt des Musikstückes treffend
anpaßt, mag es sich um Worte eines Betenden oder um den Ausdruck der
Freude, der Sanftmut, der Aufregung, der Trauer oder des Zornes handeln,
und daß die Art der Melodie den Sinn eines jeden Textes so lebendig
veranschaulicht, daß sie die Herzen der Zuhörer in wunderbarer Weise
ergreift, erschüttert und entflammt. Zuletzt sprechen Priester und Volk
zusammen feierliche Gebete in bestimmten Fassungen, die so gehalten sind,
daß jeder einzelne auf sich beziehen kann, was alle zusammen hersagen. In
diesen Gebeten ruft sich jeder Gott als den Schöpfer und Lenker des Weltalls
und als den Geber all der anderen Güter wieder ins Gedächtnis, dankt ihm für
die zahllosen Wohltaten, die er empfangen hat, besonders aber dafür, daß ihn
Gottes Güte und Gnade im glücklichsten Staat leben und an einer Religion
teilnehmen läßt, die, wie er hofft, der Wahrheit am nächsten kommt. Sollte er
sich darin irren oder sollte es einen besseren Staat oder eine bessere Religion
geben, die auch Gott genehmer wäre, so bitte er darum, seine Güte möge es
ihn erkennen lassen; er wolle ihm bereitwillig folgen, wohin er ihn auch
führe. Sollte aber diese Staatsform die beste und seine Religionsauffassung
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Buch Utopia"
Utopia
- Titel
- Utopia
- Autor
- Thomas Morus
- Datum
- 1516
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 106
- Schlagwörter
- Utopie, Staat, Religion
- Kategorien
- Weiteres Belletristik