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besonderem Glanze erstrahlen soll und die sie in ihrer Not durch Entfaltung
ihres eigenen Reichtums quälen und aufbringen möchte. Die Hoffart, eine
Schlange der Hölle, nistet sich in die Herzen der Menschen ein, hält sie wie
ein Hemmschuh zurück und hindert sie, einen besseren Lebensweg
einzuschlagen. Dieses Gewürm hat sich zu tief ins Menschenherz
eingefressen, als daß es sich ohne Mühe wieder herausreißen ließe. Und
deshalb freue ich mich, daß wenigstens den Utopiern diese Staatsform zuteil
geworden ist, die ich von Herzen gern überall sehen möchte. Sie haben sich
Lebenseinrichtungen geschaffen, mit denen sie das Fundament eines Staates
legten, dem nicht nur das höchste Glück, sondern, nach menschlicher
Voraussicht wenigstens, auch ewige Dauer beschieden ist. Seitdem sie
nämlich im Inneren Ehrgeiz und Parteisucht ebenso wie die anderen Laster
mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben, droht keine Gefahr mehr, daß sie
unter innerem Zwist zu leiden haben, der schon vielfach die alleinige Ursache
des Unterganges von Städten gewesen ist, deren Macht und Wohlstand
trefflich gesichert war. Solange jedoch die Eintracht im Inneren und die
gesunde Verfassung erhalten bleiben, ist der Neid auch aller benachbarten
Fürsten nicht imstande, das Reich zu zerrütten oder zu erschüttern, was er vor
langer Zeit zwar schon zu wiederholten Malen, aber immer ohne Erfolg
versucht hat.«
Als Raphael mit seinem Bericht zu Ende war, fiel mir gar mancherlei ein,
was mir an den Sitten und Gesetzen jenes Volkes überaus sonderbar vorkam,
nicht nur an der Art und Weise seiner Kriegführung, an seinem Gottesdienst
und seiner Religion und an noch anderen seiner Einrichtungen, sondern auch
ganz besonders an dem eigentlichen Fundament seiner ganzen Verfassung,
nämlich an seinem gemeinschaftlichen Leben und der gemeinschaftlichen
Beschaffung des Lebensunterhalts, und zwar unter Ausschaltung jedes
Geldverkehrs. Beseitigt doch schon diese letzte Bestimmung für sich allein
von Grund aus jeden Adel, jede Pracht, jeden Glanz, jede Würde, also den der
öffentlichen Meinung nach wahren Glanz und Schmuck eines Staates. Ich
wußte jedoch, daß Raphael vom Erzählen müde war, und ich war nicht ganz
sicher, ob er einen Widerspruch gegen seine Meinung vertragen würde, zumal
da ich daran dachte, wie er gewisse Leute deshalb getadelt hatte, weil sie nach
seiner Ansicht Angst hatten, nicht für klug genug zu gelten, wenn sie nicht an
den Einfällen anderer Leute etwas fänden, woran sie herumzausen könnten.
Deshalb lobte ich nur die Verfassung jenes Volkes und die Erzählung
Raphaels, nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Haus zum Essen; doch
sagte ich vorher noch, wir würden wohl noch ein anderes Mal Zeit finden,
über die gleichen Dinge tiefer nachzudenken und uns ausführlicher mit ihm
zu unterhalten. Ich wollte nur, es käme noch einmal dazu! Bis dahin kann ich
zwar nicht allem zustimmen, was dieser übrigens unbestritten hochgelehrte
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Buch Utopia"
Utopia
- Titel
- Utopia
- Autor
- Thomas Morus
- Datum
- 1516
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 106
- Schlagwörter
- Utopie, Staat, Religion
- Kategorien
- Weiteres Belletristik