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Vorbemerkungen20
Menschheit Triebe hat, hat sie in den letzten Jahren zur GenĂĽge bewiesen. Heute scheint es
doch wieder eher darauf anzukommen, dass man den Menschen daran erinnert, dass er Geist
hat, dass er ein geistiges Wesen ist.
Deshalb ist es als Zeichen geistiger Not und nicht als Ausdruck seelischer Krankheit
zu bewerten, dass Ă„rzte heute mit existentiellen Problemen der Patienten konfron-
tiert werden, die frĂĽher mit dem Seelsorger besprochen wurden. Frankl zieht in Be-
tracht, dass ein Arzt dieser Herausforderung zwar ausweichen kann, aber nur um den
Preis des Psychologismus und des Pathologismus. Allerdings fĂĽhrt Frankl vor Augen,
dass in diesem Fall vergessen wird,
dass das BekĂĽmmertsein des Menschen um einen lebenswĂĽrdigen Lebenssinn an sich noch
lange nichts zu tun hat mit Krankheit, mit Neurose. Er [der Psychologismus] wird vergessen,
dass ein Mensch, der unter dem Druck und der Last eines geistigen Problems oder in der
Spannung eines sittlichen Konflikts steht –, dass dieser Mensch unter Umständen genauso
zittern, genau so leicht schwitzen und genauso schlaflos sein mag, wie ein Neurotiker im ge-
wöhnlichen, im engeren Wortsinn. Denn eine geistige Reifungskrise kann sehr wohl unter
dem klinischen Bilde einer Neurose verlaufen, ohne dass es sich hierbei auch wirklich um eine
Neurose handelt.
Im Sinne Frankls sollte der Arzt – besonders heute – der Anforderung Rechnung
tragen können, dass er Patienten oft davor zu bewahren hat, „Opfer des tödlichen
inneren Sich-fallen-Lassens“, des Sich-Selbst-Aufgebens zu werden (Frankl 2005b,
108). Frankl plädiert dafür, dass der gemeinte seelenärztliche Zuspruch, gleichsam
eine ärztliche Seelsorge immer unumgänglich an den Willen zum Sinn appellieren
soll, bei dem es nicht darauf ankommt, was der homo patiens vom Leben noch zu er-
warten hat, sondern vielmehr darauf, was oder wer noch auf ihn wartet. Frankl lässt
keinen Zweifel daran, dass im Kontext der Logotherapie das Leben „bis zum letzten
Atemzug“ seinen Sinn behält. Denn
[...] selbst in jenen Fällen, in denen kein konkretes Werk und kein konkreter Mensch auf einen
„wartet“ – auch in diesen Fällen hat der Mensch, wenn er nur hellhörig genug ist, das deut-
liche Empfinden, das „jemand“, von ihm erwartet, dass er auch in solch einer aussichtslosen
Situation dem schicksalhaft unausweichlichen Ende tapfer entgegengehe. Seit Jahrtausenden
nennt man diese Instanz Gott.
Open Access © 2018 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
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Buch Viktor E. Frankl - Gesammlte Werke"
Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Ăśber das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Titel
- Viktor E. Frankl
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Autoren
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 318
- Schlagwörter
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Kategorie
- Geisteswissenschaften