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Inhalt und Gliederung 37
handle so, ich werde so leben, als ob es einen letzten Sinn gäbe, ich werde so leben, als ob es
Gott gäbe.
Allerdings kann die Entscheidung für diese „Glaubenswette“ nicht erzwungen wer-
den, und das heißt, dass Glaube sich nie auf Befehl vollziehen kann. Glaube braucht
die Freiheit des sich entscheidenden Menschen, die aber ihrerseits die Glaubwürdig-
keit des Zu-Glaubenden braucht. In diesem Sinne kann man die Entscheidung für den
religiösen Glauben nur dann als sinnvoll aufleuchten lassen, wenn es gelingt, Glaub-
würdigkeit zu bezeugen. Frankl folgt seinem Gesprächspartner Lapide, wenn er der
Meinung zustimmt, dass man dem Ethos der Bibel einerseits gerecht wird, wenn man
die Glaubwürdigkeit eines Lebens aus dem Glauben durch selbsttranszendente Taten
zum Ausdruck bringt. Ein Raum der Glaubwürdigkeit, den es zum Glauben braucht,
entsteht also erst, wenn und wo man die Selbsttranszendenz menschlicher Existenz
walten lässt. Demselben Ethos entspricht andererseits, dass der religiöse Glaube im
Gebet zuallererst nicht Geborgenheit, seelisches Gleichgewicht, oder ein gutes Ge-
wissen sucht, sondern ganz nicht-utilitaristisch Zwiesprache hält:
Beten heißt für mich, die Dinge so sehr „sub specie aeternitatis“ zu sehen, also so ganz unabhän-
gig von mir; Gebet ist für mich vielmehr ein Absegnen, die Dinge in einer Perspektive sehen,
dass sie potenziell wieder einen Sinn haben könnten trotz der Schrecklichkeit. [...] Diese Zwie-
sprache in letzter Ehrlichkeit und Einsamkeit, das ist dann das Beten, vielleicht ist da auch gar
keine Hoffnung, sondern ein Aufrechterhalten meines Glaubens an eine letzte Sinnhaftigkeit
ungeachtet jeder Hoffnung oder Nicht-Hoffnung. Und meistens taucht das sogar auf in einem
Moment, wo es trotz der Hoffnungslosigkeit geschieht.
Es ist allgemein bekannt, dass die Vernünftigkeit einer Entscheidung für den religi-
ösen Glauben heutzutage am häufigsten durch das sogenannte Theodizee-Problem
in Frage gestellt wird. Dieses Problem besteht „in dem anscheinenden Widerspruch
zwischen der Erfahrung des konkreten Ausmaßes von Übel und Leid einerseits und
dem theistischen Bekenntnis zu einem allmächtigen, gütigen und gerechten Gott
andererseits“ (Kreiner 2005, 36). Es kann Viktor Frankl nicht vorgeworfen werden,
dass er die Theodizee-Frage in seinem persönlichen Gespräch mit Pinchas Lapide
nur aus der Perspektive des religiösen Glaubens, und deshalb nicht als logisches Wi-
derspruchsproblem, sondern als eine primär praktische Herausforderung in Betracht
zieht. Für Frankl wirft die Leiderfahrung nämlich vor allem die Frage nach dem Sinn
des Leidens auf. Im Sinne einer „Pathodizee“ beschränkt er sich auch allgemein dar-
auf, zu fragen, welchen Sinn das Leiden habe:
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Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Über das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Titel
- Viktor E. Frankl
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Autoren
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 318
- Schlagwörter
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Kategorie
- Geisteswissenschaften