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20 Einleitung
präsent gewesen : Die sichtbare Anwesenheit der Kriegsbeschädigten erhielt die Erin-
nerung an den Krieg wenigstens eine Generation über dessen Ende hinaus wach.
Kriegsbeschädigte waren aber nicht die einzigen Opfer des Krieges. Neben ihnen
stellten auch die durch Kriegsereignisse verwundeten Zivilpersonen oder Soldaten, die
den Krieg unverletzt überstanden hatten – Heimkehrer, Demobilisierte, Kriegsgefan-
gene –, und natürlich die Hinterbliebenen der Gefallenen Ansprüche, wenn es um
die Verteilung der knappen Nachkriegsressourcen ging. Unter den Kriegsbeschädigten
nahmen wiederum Kriegsblinde, die sich sehr früh und meist in eigenen Verbänden
organisierten, sowie Frauen eine Sonderstellung ein. Letztere hatten ihre Verwundun-
gen, z. B. als Krankenschwestern, ebenfalls im Militärdienst, aber freilich nie im Kampf
davongetragen. In der Folge entwickelten sich Opferhierarchien mit mehr oder we-
niger privilegierten Gruppen. Konkurrenz zwischen den Opfergruppen entstand dort,
wo es um Status und Entschädigung ging. Ja schon die Frage, wem es gelang, sich vor
dem Staat erfolgreicher als Opfer zu definieren, unterlag einer Konkurrenz.
Der Staat konnte seinerseits Kriegsbeschädigte zur Untermauerung der eigenen
Legitimität oder zur Legitimation des Krieges benutzen, indem er sie besonders her-
vorhob und demonstrativ vorführte. Diese nach dem Ersten Weltkrieg in Frankreich,
nicht aber im selben Ausmaß in Großbritannien oder Deutschland geübte Überhö-
hung der Kriegsbeschädigten ist für Österreich nicht festzustellen. Freilich ist für sol-
che Politiken, aber genauso für die Ausprägung der jeweiligen Kriegsopferfürsorge
auch entscheidend, wo der Krieg stattgefunden hatte (im eigenen Land oder außerhalb
desselben) und ob der Staat als Sieger oder Verlierer jenes Krieges hervorging, dessen
Wunden er nun zu „heilen“ hatte.16
Immer aber – und sei es im repräsentativen Feld der Gedenkkultur – gab es Be-
reiche, in denen auch Österreich antrat, seine Kriegsbeschädigten in Ehren zu halten.
Die Bedingungen in diesem Land blieben aber besondere : Der erste große Krieg des
20. Jahrhunderts hinterließ auf dem Boden des heutigen Österreich einen Kleinstaat.
Jener Staat, für den die Soldaten in den Krieg gezogen waren, existierte nicht mehr.
Damit war das Konzept des Gebens und Nehmens, wodurch das Verhältnis zwischen
Staat und Soldat gekennzeichnet ist, empfindlich gestört. Ein ganz praktisches Prob-
lem bildete dabei nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie die plötzlich notwendig
gewordene nationale Zuordnung der Kriegsbeschädigten. Die Schwierigkeiten, die die
Aufteilung des Habsburgerreiches in verschiedene Nachfolgestaaten mit sich brachte,
spiegeln sich auch in der staatlichen Verwaltung der Kriegsbeschädigten wider. Das
Invalidenentschädigungsgesetz von 1919 definierte den Kreis der Leistungsbezieher
16 Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871,
Deutschland 1918, Berlin 2001.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918