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61Unzulänglichkeiten
trotz neuer Prinzipien : Die Militärversorgung bei Kriegsbeginn
beschriebenen Systems der Invalidenversorgung etwas überspitzt erscheinen, aber es
dürfte doch ein zentraler Baustein eines sozialstaatlichen Systems sein, staatliche Leis-
tungen jenen zukommen zu lassen, die sich nicht aus eigener Kraft versorgen kön-
nen, und das zu leisten war Aufgabe des Militärversorgungsgesetzes. Natürlich ist von
diesem System zunächst nur ein relativ kleiner Personenkreis erfasst – die Zahl der
invalid gewordenen bzw. gefallenen Soldaten vor dem Ersten Weltkrieg kann keine
sehr große gewesen sein –, aber es wurde doch ein Prinzip konstituiert, das man etwa
folgendermaßen formulieren könnte : Unter bestimmten Umständen übernimmt der
Staat Verantwortung für seine Bürger nicht nur nach außen (gegenüber fremden Staa-
ten31), sondern auch nach innen (für die Konsequenzen des eigenen staatlichen Han-
delns).
Das klingt nach nicht sehr viel, ist aber doch etwas Neues. Es ist auch nicht davon
auszugehen, dass der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt von der Absicht geleitet war, den
Sozialstaat auf den Weg zu bringen, sondern dass vielmehr ein Prozess in Gang gesetzt
wurde, der bestimmte, noch zu beschreibende Folgeentwicklungen fast zwangsläufig
nach sich zog : Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht erzwang – wenn auch auf
Raten – ein System zur Versorgung jener, die während der Ableistung dieser Pflicht
Schäden davon trugen. Und die Etablierung dieses Versorgungssystems öffnete einen
winzigen Spalt jener Türe, hinter der ein neuartiges Verhältnis zwischen Staat und Indi-
viduum, respektive (männlichem) Staatsbürger, erkennbar wird. Persönliche Abhängig-
keiten wurden abgelöst durch legalisierte Pflichten und Rechte, der Staat wurde direktes
Visavis und machte sich mittelfristig selbst zum Adressaten für Forderungen.
Bereits während des Krieges gestanden allen mit der Frage der Kriegsopferversor-
gung beschäftigten Stellen mehr oder weniger verschämt ein, dass das Militärver-
sor gungsgesetz von 1875 keineswegs den Anforderungen an eine hinreichende Ver-
sorgung invalider Soldaten unter den Bedingungen der allgemeinen Wehrpflicht
entsprach. Und sofort nach dem Zerfall der Monarchie wurde es fast ein Gemeinplatz
in der Kritik all derer, die mit der Ausarbeitung einer neuen Regelung zur Kriegsop-
ferversorgung befasst waren, dass das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Kraft
gewesene Militärversorgungsgesetz nach wie vor auf ein Berufs-, und nicht ein Volks-
heer abgestimmt gewesen sei und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht völlig
unberücksichtigt gelassen habe. Daraus wird aber deutlich, dass die Weichen für die
Etablierung bzw. den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Prinzipien bereits mit der Ein-
führung der Wehrpflicht im Jahr 1868 gelegt worden waren, und dass es letztlich des
Ersten Weltkriegs bedurfte, um das allen vor Augen zu führen.
31 Der Schutz der Staatsbürger im Ausland durch Konsulate bestand bereits früher ; Burger, Passwesen und
Staatsbürgerschaft, S. 169f.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918