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86 Die Gesetzgebung der Monarchie
So deutlich wie an dieser Stelle hatten sich bis dahin weder Regierung noch Parla-
ment geäußert : Ziel der Versorgung musste der Erhalt des früheren Lebensstandards
sein. Mit dieser Aussage ist aber zugleich auch definitiv ausgesprochen, dass Adressat
der staatlichen Versorgungsgebühren nicht mehr der Soldat, sondern der Bürger war.
Die Umsetzung der neuen Ideen erfolgte freilich äußerst umständlich und neuerlich als
Stückwerk und letztlich wäre mit dieser Lösung – Militärversorgungsgesetz plus beglei-
tendes Zusatzrentengesetz
– das während des gesamten Krieges praktizierte Modell, die
vom veralterten Militärversorgungsgesetz bereitgestellte, aber als ungenügend erkannte
Versorgung durch diverse Zuschüsse aufzubessern, endgültig festgeschrieben worden.
2.4.6 Interventionsversuche des Sozialministeriums
Auch wenn die beiden Gesetze in Österreich nicht umgesetzt wurden, ist die Genese
vor allem des Zusatzrentengesetzes nicht uninteressant – besonders deshalb, weil die-
ses die erste einschlägige Regelung war, an deren Ausarbeitung das mit Jahresbeginn
1918 neu eingerichtete Ministerium für soziale Fürsorge112 beteiligt war.
Mitte März 1918 übermittelte das Ministerium für Landesverteidigung der neuen
Zentralbehörde den Entwurf eines Zusatzrentengesetzes. Die interne Bewertung des
Textes durch das Sozialministerium macht deutlich, dass nun ein neuer Wind wehte.
Erstmals wird hier von Ministeriumsseite die alleinige Zuständigkeit der Militärver-
waltung für Angelegenheiten der Kriegsbeschädigtenfürsorge infrage gestellt. Konkret
übte das Sozialministerium massive Kritik an der Tatsache, dass der Superarbitrie-
rungsbefund, der – wenn er mehr als 20 % MdE konstatierte – die Basis für jeden
Leistungsbezug aus dem Titel der Kriegsbeschädigtenfürsorge darstellte, auch nach
dem neuen Gesetz ohne Zutun von „Zivilelementen“113 erstellt werden sollte :
„In dem Momente […], als die Herabminderung der Erwerbsfähigkeit in Prozenten aus-
zudrücken war […], mussten begründete Zweifel auftauchen, ob die Super[arbitrierungs-]
Kommissionen in ihrer rein militärischen Zusammensetzung zur Abgabe eines die Frage
der genauen Feststellung der Verminderung der bürgerlichen Erwerbsfähigkeit betreffenden
Befundes vollkommen geeignet erscheinen.“114
112 Österreich war mit der Einrichtung eines Sozialministeriums europaweit Vorreiter ; Bettina Heise,
Vom k. k. Ministerium für soziale Fürsorge zum Bundesministerium für soziale Verwaltung, Dipl.-
Arb. Wien 1995 ; Carl Gutheil-Knopp-Kirchwald, Vom K.K. Ministerium für soziale Fürsorge zum
Bundesministerium für soziale Verwaltung. Die Errichtung des Österreichischen Sozialministeriums,
Wien 1998.
113 AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1359, 7950/1918.
114 Ebd. Das Ministerium für soziale Fürsorge plädierte konkret für „gemischte Kommissionen“, die sich
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918