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108 Die soziale Kriegsbeschädigtenfürsorge im Krieg
behandlung und Schulung,55 wohingegen für die Arbeitsvermittlung die Zivilstaats-
verwaltung alleinverantwortlich sein sollte.
Nach diesem Konzept überlappten sich die Zuständigkeiten also teilweise, und das
war aus strukturellen Gründen auch gar nicht anders möglich. Das Hauptproblem
lag in der Praxis nämlich darin, dass sowohl das Militär als auch die Landeskommis-
sionen Heilanstalten betrieben und dass – abgesehen von der dadurch notwendigen
gegenseitige Verrechnung und der Tatsache, dass die Frage der Aufsichtspflicht und
Kontrolle über diese Heilanstalten geklärt werden musste56 – anfangs auch unklar
war, wer wie lange für die Kriegsbeschädigten zuständig war. Seit Herbst 1915 galt
die Regelung, dass die Kosten der Nachbehandlung und Schulung der Kriegsbeschä-
digten jedenfalls auf die Dauer eines Jahres das gemeinsame Heeresetat zu tragen
habe57 und dass die Kriegsbeschädigten erst danach, wenn die Zuständigkeit der Ar-
mee definitiv endete, der zivilen Versorgung anheimfielen. Diesem Reglement waren
Verhandlungen der Militärverwaltung mit der österreichischen und der ungarischen
Regierung vorangegangen. Angesichts der Tatsache, dass der geltende Finanzaus-
gleich die ungarische Reichshälfte begünstigte, die zu den gemeinsamen Ausgaben
weniger als zur Zahl der Invaliden beitrug,58 plädierte Ungarn für die aus seiner
Perspektive vorteilhaftere Regelung, dass das Heeresetat die Invalidenfürsorge zur
Gänze übernehmen sollte, während Österreich die Invalidenfürsorge
– aus denselben
Gründen – in Eigenregie durchführen wollte.59 Die Ein-Jahres-Regelung war dann
der Kompromiss
– ein Kompromiss, der selbst vage war, blieb doch sogar unklar, von
welchem Zeitpunkt an das „erste Jahr“ zu rechnen sei : Begann es mit dem Eintritt
der Verletzung oder Erkrankung oder – wie das Innenministerium meinte – mit
jenem Tag, an dem der Kriegsverletzte in die Verwaltung der Landeskommission
übergeben wurde ?60
Die Zahl jener Kriegsbeschädigten, die länger als ein Jahr in Nachbehandlung stan-
den, stieg im Laufe des Krieges jedenfalls kontinuierlich an und brachte die Lan-
55 Zur genauen Kompetenzabgrenzung in diesem Bereich siehe auch Franz Fahringer/Karl Friedrich
Büsch/Hans Liebl (Hg.), Kriegsbeschädigtenfürsorge in Wien, Niederösterreich und Burgenland von
1914 bis 1929, Wien 1929, S. 36.
56 Grundsätzlich hatten hier die Militärbehörden mehr Rechte : Über Antrag der Landeskommissionen
sollten sie darauf achten, dass auch in den zivilen Heilanstalten „für eine entsprechende militärische
Überwachung vorgesorgt [wurde]“ ; sie durften diese Heilanstalten zudem revidieren und die dort unter-
gebrachten Pfleglinge untersuchen lassen ; K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 1915, S. 6.
57 RGBl 1915/261.
58 Zu den genauen Verhältniszahlen siehe Kapitel 2.4.5.
59 AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1356, 1244/1918.
60 K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 1917, S. 270. Siehe auch AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt.
1362, 20712/1918.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918