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314 Die Invalidenbewegung
9.3.1 Strukturdebatte und Stadt-Land-Gegensatz
Johann Jakob Hollitscher hatte Mitte 1919, kurz nachdem er den Zentralverband ver-
lassen hatte, ein föderalistisches System vorgeschlagen, das den Zusammenhalt der
verschiedenen Strömungen innerhalb der sich zersplitternden Invalidenbewegung
garantieren sollte. Der Begriff des Föderalismus war unglücklich gewählt,308 ging es
Hollitscher doch weniger um ein territoriales Prinzip als um ein organisatorisches
Modell. Er wollte als Leitungsgremium einen von autonomen Gruppen beschickten
Dachverband installieren und fand, dass ein solches Delegiertensystem „rein psycho-
logisch den Eigenheiten der einzelnen Gruppen […] vielmehr entgegen“ käme als das
vom Zentralverband praktizierte Modell, die Funktionäre auf großen Verbandstagen
direkt zu wählen ; sein Modell würde zugleich die Gefahr bannen, dass die Leitung
„zu einem mit der Masse der [W]ählenden nicht mehr recht zusammenhängenden
Herrschaftskörper“ würde.309 Die Führungsriege des Zentralverbandes, die in den Au-
gen Hollitschers offenbar zu einem solchen „Herrschaftskörper“ geworden war, stand
dieser Idee einer Repräsentanz aller Gegensätze bei gleichzeitig schwacher zentraler
Leitung ablehnend gegenüber.310 Es war dabei vor allem Karl Egkher, bis August 1920
Schriftleiter des Invaliden, später Organisationsreferent des niederösterreichischen
Landesverbandes,311 der das zentralistische (und damit auch hierarchischere) Modell
favorisierte. Er stritt die Existenz der von Hollitscher angesprochenen verschiedenen
Strömungen innerhalb der Invalidenschaft rundweg ab, sah in der „Annahme eines
Interessengegensatzes zwischen Stadt- und Landinvaliden“ eine „Irreleitung“312 und
plädierte für eine starke, zentrale und professionelle Führung mit Durchgriffsrecht
gegenüber den untergeordneten Instanzen ; die ständig wechselnden Vertreter eines
föderalistisch beschickten Gremiums schwächten seiner Meinung nach nicht nur das
308 Das hob auch der vermittelnde Heinrich Gallos hervor ; AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1559, Sa 46,
25160/1919, Heinrich Gallos, An die Invaliden Deutschösterreichs !, v. September 1919.
309 Ebd., Kt. 1367, 23004/1919, Programm Dr. Hollitscher für den Umbau der Invalidenorganisation, v.
13.8.1919, S. 2 ; fragwürdig an Hollitschers Modell war die Tatsache, dass er der Mitgliederzahl der
einzelnen im Dachverband zu vereinigenden Gruppen keine Bedeutung beimessen wollte ; ebd. S. 7 ;
vgl. auch Der Invalide, Nr. 15 v. 1.8.1919, S. 4.
310 Z. B. ebd.; vgl. auch Julian Berger, Die Einigungsverhandlungen, in : Der Invalide, Sondernummer 4–5
v. 1919, S. 4f.
311 Zu Egkher siehe Der Invalide, Nr. 16 v. 1.9.1920 ; „Von unseren Landesverbänden“, in : Nachrichten
Zentralverband, Nr. 7/8 v. 15.11.1922, S.
7. Später war Egkher Ständiger Vertreter vor der Schiedskom-
mission ; „Rechenschaftsbericht des Verbandsvorstandes und Verbandhauptausschusses für die Zeit
vom 1. Jänner 1926 bis 31. Dezember 1927“, in : Neues Werden. Offizielles Organ des Landesverbandes
Niederösterreich der Kriegsinvaliden und Kriegershinterbliebenen, Nr. 6/7 v. Juni/Juli 1928, S. 8–32.
312 Karl Egkher, Zentralismus oder Föderalismus, in : Der Invalide, Nr. 14. v. 1.8.1920, S. 4f, hier S. 4.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918