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Aichinger, Ilse#


* 1. 1. 1921, Wien

† 11. 11. 2016, Wien


Schriftstellerin, Hörspielautorin

Ilse Aichinger
Ilse Aichinger
© Ch. Brandstätter Verlag Wien, für AEIOU

Am 1.1.1921 wurden Ilse und ihre Zwillingsschwester Helga als Töchter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren.

Die Familie lebte in Linz, bis der Vater die Scheidung einreichte, dann zog die Mutter mit den Kindern zurück nach Wien. Ilse lebte meist bei ihrer jüdischen Großmutter bzw. in Klosterschulen und war mit Mutter und Verwandten der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt.

Die Schwester konnte 1939 (mit einem Kindertransport) nach Großbritannien fliehen, die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 nach Minsk deportiert und ermordet. Ilse und ihre Mutter wurden in den Kriegsjahren dienstverpflichtet; sie rettete später ihrer Mutter das Leben, indem sie sie nach Erreichen der eigenen Volljährigkeit im eigenen Zimmer versteckte.

Als "Halbjüdin" bekam sie jedoch bis 1945 keinen Studienplatz und begann erst nach Kriegsende ein Medizinstudium, das sie aber bald abbrach, um den autobiographischen Roman "Die größere Hoffnung" (1948) abzuschließen, nachdem sie mit ihrem Essay "Aufruf zum Misstrauen" erstmals Aufsehen erregt hatte.

Von Dezember 1947 bis März 1948 konnten Mutter und Tochter Aichinger nach zweijährigem Warten auf ein Visum endlich Helga Aichinger in London besuchen. Ilse Aichinger arbeitete in England zeitweise in einer Knopffabrik, was sie später zum Hörspiel Knöpfe (1953 erstausgestrahlt) inspirierte. Nach ihrer Rückkehr nach Wien war sie 1949/1950 als Hilfskraft in der Wiener Niederlassung des Fischer Verlags angestellt. 1951 folgte sie der Einladung Inge Scholls zur Mitarbeit beim Aufbau der "Geschwister-Scholl-Stiftung" und der "Hochschule für Gestaltung"” in Ulm. Ab 1952 konnte Aichinger von Stipendien und ihren literarischen Arbeiten leben. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete auch der Preis der "Gruppe 47" im Jahr 1952 für die "Spiegelgeschichte"; er machte die Autorin erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. (In der "Spiegelgeschichte" wird ein Leben rückwärts erzählt - von der Bahre bis zur Wiege.)

In der "Gruppe 47" lernte sie die meisten wichtigen deutschsprachigen Schriftsteller nach 1945 kennen ( u.a. Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Thomas Bernhard, vor allem aber Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratete und mit dem sie nach Bayern übersiedelte.
1963 zog das Ehepaar zog mit den Kindern Clemens und Mirjam 1963 nach Großgmain/Salzburg, wo Ilse Aichinger bis 1984 lebte (unterbrochen von einer Afrikareise 1966 und einer Lesereise durch die USA 1967).

1972 starb ihr Mann Günter Eich. 1984 - nach dem Tod der Mutter - zog Ilse Aichinger auf Einladung des Fischer-Verlags nach Frankfurt und kehrte 1988 schließlich nach Wien zurück, wo sie nach einer längeren Schaffenspause Ende der 1990er Jahre wieder zu schreiben begann.
(Es entstanden in der Folge Texte für die Tageszeitung "Der Standard", die gesammelt auch in Buchform erschienen sind.)

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes Clemens im Februar 1998 zog sich die Autorin aus der literarischen Öffentlichkeit fast völlig zurück. Sie lebte in Wien und besuchte bis ins hohe Alter fast täglich ihr Stammcafé (Café Demel am Michaelerplatz).

Die Schriftstellerin starb am 11. November 2016 mit 95 Jahren in Wien.


Ilse Aichinger schrieb einen Roman, verfasste Erzählungen und Kurzprosa und machte sich auch als Hörspielautorin einen Namen. Von Anfang an riefen ihre Werke zu Kritik an politischen und gesellschaftlichen Zuständen auf: 1945 schon schrieb sie einen Text über die Welt der Konzentrationslager ("Das vierte Tor") - der erste in der österreichischen Literatur! 1948 schrieb sie ihren einzigen Roman "Die größere Hoffnung", in dem sie autobiographisch das Schicksal einer jungen Halbjüdin unter dem Nationalsozialismus schildert. Der Roman bietet keine konkret-realistische Darstellung, sondern eine Schilderung in zehn chronologisch angeordneten Bildern aus der subjektiven Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens. Er ist poetisch und - letztlich den Schrecken transzendierend - er nähert sich dem Thema auf ganz andere Weise als die wenig später einsetzende "Kahlschlagliteratur".

Das Werk Ilse Aichingers - eine der bedeutendsten Nachkriegsautorinnen Österreichs - zeigt eine ausgeprägte Tendenz zur Verknappung und Präzisierung, zunehmend erschien der Autorin die Sprache immer mehr als unbrauchbares Ausdrucksmittel, die Texte wurden auch immer kürzer, bis hin zum Aphorismus.

2000 eröffneten sich - durch Aichingers Leidenschaft für das Kino - neue Möglichkeiten: die Tageszeitung 'Der Standard' druckte ihr Viennale-Tagebuch und startete dann eine wöchentliche Kolumne "Journal des Verschwindens", gefolgt von den "Unglaubwürdigen Reisen". Die Kolumnen erschienen später jeweils gesammelt in Buchform. Die Kolumne "Schattenspiele" erschien ab 2004 im "Spectrum" der 'Presse'.

Auszeichnungen, Ehrungen (Auswahl)#

  • Literaturpreis der Gruppe 47, 1952
  • Karl-Immermann- Preis der Stadt Düsseldorf, 1955
  • Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1957
  • Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1961 und 1991
  • Anton-Wildgans-Preis der Österr. Industrie, 1968
  • Nelly-Sachs-Preis, 1971
  • Georg-Trakl-Preis für Lyrik des BMUK Wien und des Landes Salzburg, 1979
  • Franz-Nabl-Literaturpreis der Stadt Graz, 1979
  • Franz-Kafka-Preis, 1983
  • Günter-Eich-Preis der Rauriser Literaturtage, 1984
  • Europa-Literaturpreis der Europäischen Union, 1987
  • Weilheimer Literaturpreis, 1988
  • Solothurner Literaturpreis, 1991
  • Peter-Rosegger-Literaturpreis des Landes Steiermark, 1991
  • Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur, 1995
  • Joseph-Breitbach-Preis der Mainzer Akademie der Wissenschaften, 2000
  • Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, 2002
  • Großer Kunstpreis des Landes Salzburg, 2015

Werke (Auswahl)#

Bücher
  • Die größere Hoffnung. Roman, 1948
  • Rede unter dem Galgen. Erzählungen, 1952
  • Der Gefesselte. Erzählungen, 1953
  • Auckland. Vier Hörspiele, 1954 (später erweitert)
  • Zu keiner Stunde. Szenen, 1957
  • Besuch im Pfarrhaus. Hörspiel und Dialoge, 1961
  • Wo ich wohne. Erzählungen, Dialoge, Gedichte, 1963
  • Eliza, Eliza. Erzählungen, 1965 (später erweitert)
  • Nachricht vom Tag. Erzählungen, 1970
  • Dialoge. Erzählungen. Gedichte, 1971
  • Schlechte Wörter. Prosa und das Hörspiel "Gare maritime" 1976 (später erweitert)
  • Meine Sprache und ich. Erzählungen, 1978
  • Verschenkter Rat. Gedichte, 1978
  • Spiegelgeschichte. Erzählungen und Dialoge, 1979
  • Kleist, Moos, Fasane. Kurzprosa, Erzählungen, Erinnerungen, Aufzeichnungen 1950-85, Preis-Reden, 1987 (später erweitert)
  • Das Verhalten auf sinkenden Schiffen. Reden zum Erich-Fried-Preis 1997, 1997
  • Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic, 1997
  • Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, 2001
  • Kurzschlüsse. Wien, 2001
  • Unglaubwürdige Reisen, 2005
  • Subtexte, 2006
  • Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005, 2011
Werkausgabe
  • Werkausgabe in acht Bänden (Hrsg. v. Richard Reichensperger), 1991


Hörspiele

  • Knöpfe. NWD, SDR, 1953
  • Französische Botschaft. Dialog. BR, 1960
  • Weiße Chrysanthemen. Dialog. NDR, 1961
  • Besuch im Pfarrhaus. NDR, 1962
  • Die Schwestern Jouet. SDR, 1962
  • Nachmittag in Ostende. NDR, SDR, 1968
  • Auckland. NDR, 1970
  • Gare Maritime. ORF, 1976
  • Die größere Hoffnung. ORF Salzburg, 1991
  • Ilse Aichinger. Schriftstellerin. Berlin: Speak low, 2011

Leseprobe#

aus

Ilse Aichinger - "Unglaubwürdige Reisen." "Eine Lobrede auf England"

"Meine Mutter trug mich aus den schwarzen Wäldern", schreibt Brecht von Augsburg und seinen Rändern. Meine Schwester und ich kamen in Wien zur Welt, niemand musste uns weit tragen, und es gab in diesen Gegenden auch keine schwarzen Wälder, die fehlen dem Wienerwald und seiner Höhenstraße. Aber was fehlt, öffnet das Land, und die Stadt gibt jeder entlegenen Idee Flügel und lässt eine Beziehung nicht einschlafen, die rettend geworden ist: die zu Großbritannien, dem "merry old England", das nur einen von uns allen retten konnte. Und damit doch jeden einzelnen.


Wenn ich morgen aufwache, werde ich seinen Nebel durch die Fenster- und Türritzen dringen spüren und ein Glück, das von Tag zu Tag kräftiger wird: das Glück, da zu bleiben, wo man sich eben nicht aufhält. Ich werde mich nie mehr in England aufhalten. Und deshalb kann ich nie mehr davon verlassen werden: von seinen erstaunlichen Farben, seinen Trends, seinen Moden, seinen Manien, die mir eine Weltvernunft bezeugen, die unvernünftig genug ist.


© 2005, S. Fischer Verlag, Frankfurt / M.
LITERATURHAUS
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Literatur#

  • K. Bartsch (Hg.), Ilse Aichinger, 1993
  • S. Moser, Ilse Aichinger, Leben und Werk, 1995
  • I. Fußl, C. Gürtler (Hg.), Ilse Aichinger: "Behutsam kämpfen", 2012

Hörproben #


Hörprobe Österreichische Mediathek


Die größere Hoffnung. Ausschnitt
Autorenlesung. Wien, 7.12.1965

Vorlesen

Weiterführendes#

Quellen#


Redaktion: I. Schinnerl


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