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"Landsleute! Kommt in Massen!" #

Vor über 50 Jahren demonstrierten 35.000 Südtiroler auf Schloss Sigmundskron für die Autonomie ihrer Region und gegen die Versuche der römischen Regierung, Südtirol italienisch zu unterwandern.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 17. November 2007) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

von

Rolf Steininger


1946 hatten die Alliierten die Rückkehr Südtirols zu Österreich definitiv abgelehnt. Als eine Art Ersatzlösung hatten der österreichische Außenminister Karl Gruber und sein italienischer Kollege und Ministerpräsident Alcide de Gasperi am 5. September 1946 in Paris ein Abkommen geschlossen, das den Südtirolern die Autonomie bringen sollte. Es kam aber bekanntlich anders. Das Abkommen war nicht ideal, konnte es nach Lage der Dinge auch nicht sein. Der italienische Botschafter in London, der maßgeblich am Abkommen beteiligt war, meinte in einem vertraulichen Brief, wenn der gute Wille auf der einen oder anderen Seite fehle, "bedeutet das, wir sind gescheitert".

Man scheiterte, weil auf italienischer Seite der gute Wille fehlte! Rom kümmerte sich wenig bis gar nicht um die Südtiroler. Im Sommer 1947 errichtete man die Region Trentino-Alto Adige, in der die Italiener in der Mehrheit waren und in den folgenden Jahren eine Politik betrieben, die den Faschisten zur Ehre gereicht hätte. Dies führte bei den Südtirolern schnell zu Zweifeln an der Aufrichtigkeit der italienischen "Autonomie"-Politik. Das Misstrauen wurde anfangs im Schulbereich massiv bestätigt. Die "Dolomiten", die Zeitung der Südtiroler, schrieb damals: "Die Faschisten, die nach wie vor in den Regierungsstellen sitzen, lässt es nicht ruhen; sie möchten ihr Ziel erreichen, das heute dasselbe ist wie vor 20 Jahren – die stufenweise Italianisierung der Südtiroler Schule. Geändert haben sich nur die Methoden."

Entnationalisierung#

Es wurden Schulbestimmungen ausgearbeitet, die an die frühesten faschistischen Maßnahmen der 1920er Jahre erinnerten, etwa mit der Einschränkung des Elternrechts bei der Schulwahl. Die deutsche Sprache wurde nur noch als Hilfssprache angesehen; es gab keinerlei Durchführungsbestimmungen für den Volkswohnbau. Durch den massiven Bau von Volkswohnungen und die anhaltende Zuwanderung wurde die Entnationalisierungspolitik des Faschismus fortgesetzt.

Dies kann man auch in einem Dokument nachlesen, das ich vor einiger Zeit im Archiv des italienischen Außenministeriums gefunden habe. Dort wird offen von der "51 Prozent"-Politik gesprochen, d.h. von der weiteren Zuwanderung von Italienern nach Südtirol, bis man die 51 Prozent Mehrheit erreicht hätte. Schon 1953 sprach der bekannte "Dableiber" Südtirols, Kanonikus Michael Gamper, vom "Todesmarsch" der Südtiroler, wenn nicht noch in letzter Stunde Rettung komme. Damals wuchs die Opposition innerhalb der Südtiroler Volkspartei (SVP); im Mai 1957 kam es dann zur Wachablösung in der Partei. Silvius Magnago wurde Parteiobmann. Die neue SVP-Führungsspitze war nicht mehr zu einem inneritalienischen Dialog bereit, glaubte vielmehr mit Kompromisslosigkeit und offener Sprache gegenüber Trient und Rom eine bessere Lösung für die eigene Volksgruppe erzielen zu können – und die hieß, Landesautonomie für Südtirol.

Zur Eskalation kam es, als der italienische Arbeitsminister Giuseppe Togni am 1. Oktober in einem Telegramm an den Bürgermeister von Bozen mitteilte, der Stadt Bozen würden von der Regierung 2,5 Milliarden Lire zur Durchführung eines Wohnungsbauprogramms für 5000 Wohnungen zugewiesen. Die Stimmung wurde in den Schlagzeilen der "Dolomiten" vom 2., 16. und 18. Oktober deutlich: "Das Deutschtum in Bozen völlig abgewürgt"; "Rom scheut keine Gelder, um neue Italiener anzusiedeln"; "Wohnungsbau darf nicht der Entnationalisierung dienen"; "Randfragen werden uninteressant, wenn die Axt an die Wurzel unseres Volkstums gelegt wird".

Die österreichische Botschaft in Rom sah das ähnlich und berichtete nach Wien: "Die Absicht einer Förderung der Unterwanderung ist zweifellos gegeben, zumal Togni als Nationalist bekannt ist." Das konnte man auch auf andere Art beweisen. In Bozen wurden im Herbst 1957 700 Wohnungen gebaut. Für die italienischen Baracken- und Ruinenbewohner benötigte man nur 350 Wohnungen. Trotzdem sollten jetzt 5000 Wohnungen gebaut werden – fast ausschließlich für neu zuwandernde Italiener. Die Diskussion über den Volkswohnbau zeigte nach Meinung des deutschen Generalkonsuls in Mailand, "wie sehr die deutsche Volksgruppe mit dem Rücken an der Wand steht und wie hilflos sie im Grunde genommen gegen die unter einer zivilisierten, ‚europäischen’ Oberfläche geführten systematischen Angriffe gegen ihre Existenz ist."

So wie bisher konnte es jedenfalls nicht weitergehen. Und so beschloss die SVP-Führung am 27. Oktober in Bozen eine, wie es hieß, "Volkskundgebung" als Protest gegen die italienische Wohnungsbaupolitik in Südtirol am 17. November durchzuführen. Die "Dolomiten" fassten die Stimmung im Land mit folgenden Worten zusammen: "Das Deutschtum wird sozial erdrosselt. [. . .] Wir haben es nun einmal satt, dass in Bozen dauernd Hunderte von Wohnungen für Rovigoten, Lombarden, Trentiner, Neapolitaner und Calabresen geschaffen werden und unsere Leute wie Bettler vor den Toren der Stadt bleiben müssen. Wir sind es satt, dass man Industrien aufbaut, die keinem der Landeskinder Brot geben, sondern nur solchen, die aus allen Teilen Italiens zuwandern. Baut Industrien und Wohnungen für die Rovigoten in Rovigo, sie schreien dort danach und werden euch dankbar sein. In Südtirol aber baut solche Industrien und solche Wohnungen, die den Südtirolern zugute kommen."

Die Frage, die mit der Ausschüttung der 2,5 Milliarden Lire wieder aufgerollt worden sei, "ist also nicht die Frage Wohnbau oder nicht, es ist nicht die Frage Industrie oder nicht, sondern es ist die Lebensfrage des Südtiroler Volkes". Der italienische Regierungskommissar der Region verbot die Kundgebung in Bozen mit der Begründung, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung wäre nicht möglich. Der SVP wurde allerdings zugestanden, die Veranstaltung auf Schloss Sigmunds-kron durchzuführen, nachdem Magnago sein "deutsches Ehrenwort" gegeben hatte, dass es von Sigmundskron aus keinen "Marsch auf Bozen" geben werde.

Der Aufruf#

Die "Dolomiten" veröffentlichten am 9. November den Aufruf der SVP-Führung zur Teilnahme an der Demonstration: "Wenn ihr nicht wollt, dass Südtirol in einem Meer italienischer Zuwanderer ertrinke; wenn ihr nicht wollt, dass unsere Jugend aus den Bergen und Tälern keine Stellen mehr erhält, weil alle neuen Stellen nur Italienern vorbehalten werden; wenn ihr nicht wollt, dass die Südtiroler von der Zuteilung der mit staatlichen Geldern gebauten Wohnungen für alle Zukunft ausgeschlossen bleiben; wenn ihr wollt, dass die im Pariser Vertrag garantierte Autonomie Wirklichkeit wird in Form einer echten Selbstverwaltung für das Land Südtirol vom Brenner bis Salurn; wenn ihr wollt, dass unsere deutsche Jugend endlich Arbeit auf dem angestammten Väterboden erhält und zwar auch in den staatlichen Verwaltungsstellen, dann kommt zur Volkskundgebung [. . .] Landsleute! Kommt in Massen!"

Sie kamen in Massen. Am 17. November versammelten sich rund 35.000 Südtiroler zu einer einzigartigen Protestdemonstration auf Schloss Sigmundskron. Auf Plakaten und Transparenten hatten sie ihre Forderungen formuliert: "Brüder im Norden helft uns!", "Mander, es isch Zeit", "Volksabstimmung für die Kolonie Südtirol", "Südtirol vor die UNO", "Tirol den Tirolern", "Schutz vor 48 Millionen" und schließlich "Los von Trient!"

Den Ordnerdienst auf dem Gelände hatte die Freiwillige Feuerwehr übernommen, während 5000 Carabinieri außerhalb in Bereitschaft standen. Alles verlief friedlich, es gab keinen "Marsch auf Bozen". Von den drei auf der Kundgebung gehaltenen Reden war jene von Magnago eine aktuelle Präzisierung des Parteiprogramms der SVP. Sigmundskron wurde für ihn zur Bewährungsprobe, die er glänzend bestand.

Damit begann auch sein politischer Aufstieg. In der mit überwältigender Mehrheit angenommenen Resolution hieß es: "Den Staat aber mahnen wir an die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen. Dazu gehören vor allem: die Gewährung einer echten Autonomie für Südtirol als eigene Region mit der Sicherung des unbedingten Vorrechtes auf Arbeit und Wohnung für die einheimische Bevölkerung, die Durchführung der vollen und wirklichen Gleichberechtigung der deutschen Sprache im öffentlichen Leben und wirksame Maßnahmen, welche die verhältnismäßige Berücksichtigung unserer Volksgruppe bei der Besetzung aller öffentlichen Stellen und der Vertretung in allen öffentlichen Organen sichern.

Das Südtiroler Volk appelliert an Österreich, das im Pariser Vertrag den Schutz der Südtiroler Volksgruppe übernommen hat, sich mit ganzer Kraft und allen Mitteln für die Erfüllung dieser Forderungen einzusetzen."

Blickt man zurück, lässt sich heute sagen: Sigmundskron hatte für Südtirol eine ganz besondere Bedeutung. Es war das zentrale Ereignis in der Nachkriegsgeschichte des Landes. Von nun an blies ein schärferer Wind in der Südtirolpolitik. Im Verein mit Wien und Innsbruck begann die SVP eine neue Phase in ihrem langen Kampf ums Überleben der Volksgruppe. Es dauerte noch 15 Jahre, bis 1972 ein neues Autonomiestatut in Kraft trat, das endlich das Überleben sicherte.

Rolf Steininger geboren 1942, ist Professor und Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.

Wiener Zeitung, Samstag, 17. November 2007

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