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Warum muss Geschichte immer wieder neu geschrieben werden? (Essay)#

Ernst Bruckmüller

Eigentlich sollte die Geschichte irgendwann „fertig“ geschrieben sein. Irgendwann müssen doch alle Quellen auf dem Tisch liegen, irgendwann sind, nach hunderten von Napoleon-, Hitler- und Ghandi-Biographien alle historischen Bücher geschrieben, alle Themen erschöpft.

Aber das ist nicht so. Der Geschichte gehen die Themen nie aus. Beginnen wir mit einer einfachen Feststellung: Der Mensch ist das einzige Lebewesen mit einem komplexen Erinnerungsvermögen, er ist das Wesen mit Gedächtnis. Im Normalfall reicht dieses Gedächtnis bis in die eigene Kindheit zurück. Mit Hilfe von Erinnerungen der Eltern und Großeltern kommt man auf drei Generationen, also auf etwa 90–100 Jahre.

Das menschliche Gedächtnis ist aber auch neugierig. Es will wissen, was davor lag. Die Forschung nach den Ahnen ist ein wichtiges Motiv historischen Forschens. Nicht nur einzelne Personen, auch menschliche Verbände, nationale Gesellschaften, Herrscher und Ideologien waren und sind eifrig bemüht, für ihre Existenz und besondere Bedeutung historische Argumente zu finden. So dient in den Schulbüchern die Demokratie der Athener als Vorbild für die moderne Demokratie – aber das war sie nicht (Unterschiede z. B.: nur die freien Männer waren berechtigt; offene Besprechung unter freiem Himmel; Amtszeiten extrem kurz; viele Beamte durch das Los bestimmt, nicht gewählt).

In der Tat befruchtet die Suche nach wirklichen oder möglichen Vorgängern die Geschichte immer aufs Neue: Die jungen Nationen des 19. Jahrhunderts suchten ihre Vorgänger gerne im Mittelalter, Sozialisten und Kommunisten machten sich auf die Suche nach Sklaven-, Bauern- und sonstigen Aufständen als Vorläufer der erwarteten Revolution der Arbeiterklasse.

Auch ohne diese Vorfahrensuche steht Geschichte immer in einem sehr direkten Zusammenhang mit der jeweiligen Gegenwart.

Als mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die „sociale Frage“ brennend wurde, entstanden Nationalökonomie und Soziologie und mit ihnen die Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Der Nationalismus brachte die Nationalgeschichten hervor, die Frauenbewegung die Frauengeschichte, die Umweltbewegung die Umweltgeschichte und die allgegenwärtige Befassung mit Sexualität die Geschichte der Sexualität. Natürlich gibt es inzwischen eine Geschichte der Alltagskultur, der Kleidung, des Wohnens, des Essens, des Verkehrs …

Außerdem entsteht Geschichte immer wieder neu. Bereits das gestrige Geschehen ist unwiederbringlich vorbei und kann allenfalls mehr oder weniger gut aus den vom Gestern geschaffenen Quellen rekonstruiert (manche sagen auch bewusst: nach unseren Fragestellungen „konstruiert“) werden. Daneben tauchen auch auf längst erforschtem Terrain immerwieder neue, unbekannte Quellen auf. Aber fast noch wichtiger als die neuen Quellen sind die neuen, von der jeweiligen Gegenwart beeinflussten Fragestellungen. Denn jede Generation will immer Neues und Anderes von „ihrer“ Vergangenheit wissen. Der Mensch kann der Neugier seines Gedächtnisses nicht entrinnen.


Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch:

© 2007 by Styria Verlag in der, Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG, Wien
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