Die Nike von Samothrake und die Austria der Wiener Hofburg#
Die kaiserliche Hofburg war seit langem erbaut, bis auf den den Michaelerplatz abschließenden Bauteil, auf dem sich das altehrwürdige Hofburgtheater befand. Nachdem am Ring das neue Burgthater entstanden war, fiel das alte der Spitzhacke zum Opfer und gab die Möglichkeit zur Schließung dieser Baulücke durch eine neobarocke Fassade mit einer monumentalen Einfahrt in die Burg, mehrere Ruhmesstatuen des Herakles sowie zwei den Trakt begrenzende Prunkbrunnen.
Der östliche Brunnen symbolisiert Österreichs Macht zur See, eher programmatisch in Hinblick auf den bedeutenden Österreichischen Loyd als auf die mehr als eine Generation zurückliegenden militärischen Erfolge in den adriatischen Gewässern. Sein Künstler, der Bildhauer Rudolf Weyr, war ein Hauptvertreter des österreichischen Neobarock und der Ringstraßenepoche mit zahlreichen Werken, 1891 Leiter der Akademie der bildenden Künste.
Seine imposante Komposition 1895 der kraftvoll vorwärts drängenden jugendlichen Austria als Nike, die siegverkündende Göttin auf dem Bug des Schiffes, war konzeptionell inspiriert von der aufsehenerregenden – und seither weltberühmten griechischen Statue der Nike von Samothrake, entdeckt 1863 vom französischen Diplomaten Charles Champoiseau, ausgestellt im Louvre 1866. Weyrs Kollege, der erste Ordinarius für Archäologie an der Universität Wien, Professor Alexander Conze, der die österreichischen Grabungen auf Samothrake 1873 und 1875 leitete, konnte die 23 ungeklärten und unbeachteten Steintrümmer im Umkreis der Nike (in einem den Kabiren geweihten Heiligtum mit vor Schiffbruch schützenden Mysterien) eindeutig als einen mächtigen Schiffsbug identifizieren, auf dem die junge Siegesgöttin wirkungsvoll gelandet war und den Sieg in einer Seeschlacht verkünden konnte. Das Interesse des Louvre war sofort geweckt, die mächtigen Blöcke wurden nach Frankreich verschifft und in Paris nach den österreichischen Studien zusammengefügt, die Statue restauriert und mit einem zweiten Flügel symmetrisch ergänzt - so verkündet dieses Meisterwerk hellenischer Skulpturen seit 1879 im Louvre ihre Siegesmeldung vom Vorderdeck des Kriegsschiffes. Historischer Anlaß der Statue war wahrscheinlich ein rhodischer Seesieg über den Seleukiden König Antiochus den Großen im Jahr 190 v. Chr.
Die österreichische Siegerin zeigt durch ihre Komposition, ihre asymmetrische Körperhaltung (Kontrapost) und den um ihren Körper zart drapierten Stoff dergestalt, daß sich das Kleid windgebauscht um ihre Taille dreht und um ihre Beine legt, eine starke Beeinflussung durch die griechische Nike in Paris, die zwanzig Jahre vorher von seinem Wiener Kollegen auf einen Schiffsbug gesetzt worden war; die Nike setzt ihren rechten Fuß auf die Schiffsplanke, während ihr linker Fuß noch in der Luft schwebt - Weyrs Göttin tritt mit dem linken Fuß auf! In beiden Werken - Nike wie Austria - ist die Statue im Vergleich zur Größe des Buges stark vergrößert und wirkt damit noch imposanter.
Spätere französische Ausgrabungen brachten 1950 eine Hand der Nike zum Vorschein, während österreichische Kollegen zwei ihrer Finger ans Licht brachten - dieses Beispiel internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit ist neben der Nike ausgestellt.
Weiterführendes:#
Literatur:#
- Alexander Conze: Archäologische Untersuchungen auf Samothrake, Wien 1875
- Text: Kurt Hengl
- Bilder: Autor und Wikicommons