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vom 01.06.2022, aktuelle Version,

Hermann Burger

Hermann Burger (* 10. Juli 1942 in Menziken; † 28. Februar 1989 in Brunegg; heimatberechtigt in Burg AG) war ein Schweizer Schriftsteller, Journalist und Germanist.

Leben

Hermann Burger verbrachte seine Kindheit in einem gutbürgerlichen Haus in Menziken. Der Vater war Versicherungsinspektor und Plastiker, die Mutter Hauswirtschaftslehrerin. Er hatte zwei jüngere Geschwister. Früh zeigten sich künstlerische Talente, neben dem Schreiben, Malen und Zeichnen auch im musikalischen Bereich; als Jugendlicher spielte Burger in einer Jazz-Combo drei Instrumente[1]. Nach Erwerb seiner Matur an der Alten Kantonsschule Aarau studierte er (während vier Semestern) Architektur, dann Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich.

Nach seiner Promotion im Jahr 1973 bei Emil Staiger (mit einer Dissertation über Paul Celan) und seiner Habilitation (mit einer Studie zur Schweizer Gegenwartsliteratur) war er ab 1975 als Privatdozent für deutsche Literatur vorab an der ETH Zürich sowie als Feuilletonredaktor beim Aargauer Tagblatt tätig. Nachdem der Künstler Felix Hoffmann und später der Lehrer, Schriftsteller und Kulturredaktor Anton Krättli (1922–2010) das Atelier im Gartenhaus des früheren Besitzers Heinrich Remigius Sauerländer auf dem Grundstück der Laurenzenvorstadt Nr. 61 aufgegeben hatten, benutzte es Burger von 1968 bis 1972.[2]

Burger war seit 1987 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Er heiratete 1967 die Juristin Anne Marie Carrel und hatte mit ihr die beiden Söhne Hermann (* 1975) und Matthias (* 1976). 1989 starb er durch eine Überdosis Medikamente an seinem Wohnsitz im Pförtnerhaus von Schloss Brunegg.[3]

Literarisches Schaffen

Hermann Burgers erste Publikation überhaupt war ein Aufsatz in der vierten Ausgabe des «Zürcher Student» 1967. Burger hatte damals gerade sein Studienfach von Architektur zu Germanistik gewechselt und beschäftigte sich in «Schreiben Sie, trotz Germanistik?» mit der Situation dessen, der literaturhistorisch gebildet ist und zugleich selbst als Schriftsteller in Erscheinung treten will. Dieses Dilemma des poeta doctus wurde für Burger zu einem prägenden Thema, das auch in diversen Prosatexten verhandelt wird. So arbeitete er beispielsweise 1970 an dem Roman Lokalbericht. Ich-Erzähler in dem Fragment gebliebenen Werk ist ein Doktorand der Literaturwissenschaft, der sich nebenher als Romancier versucht und grandios scheitert.[4] In Brenner 1: Brunsleben kehrt Burger die Konstellation um und imaginiert sich statt als gelehrten Dichter als unbelesenen Tabakkaufmann. Auch in der Frankfurter Poetikvorlesung sowie dem St. Galler Vortrag über wissenschaftliche und poetische Sprache greift Burger diese Themen auf und bezieht sich auf seinen Aufsatz von 1967.

Neben poetologischen Überlegungen interessieren sich Hermann Burgers Texte immer wieder auch Aussenseitern der Gesellschaft, die er als Einzelgänger würdigt. Dieses Schicksal teilte Burger mit seinen Figuren – sei es als musisch hoch talentiertes und gleichzeitig sehr sensibles Kind, das unter seiner als extrem kühl empfundenen Mutter-Beziehung litt, sei es als unter schweren Depressionen leidender Schriftsteller, für den Schreiben ein lebenserhaltender Prozess war.

Die Figuren seiner Romane und Erzählungen versuchen auf sprachlich virtuose und detailverliebte Weise ihre Lebenssituation – zumeist die eines kranken Menschen – darzulegen. In Burgers Romandebüt Schilten von 1976 geschieht das in Briefform, Adressat ist die «Inspektorenkonferenz»: Der Lehrer von Schilten hätte der Konferenz über den Unterricht und das Fortkommen der Schulkinder zu berichten. Da er anstelle eines Pausenplatzes jedoch einen Friedhof vor dem Schulhaus vorfindet, erzählt er mit enormer Sachkunde zusehends mehr von Totenkult, Friedhöfen und Abdankungen als vom Schulbetrieb. Burger vermischt in Schilten und anderen Texten Realität und Fiktion sowie Autobiographisches mit Erfundenem. Diese Technik bezeichnete er als Methode der «schleifenden Schnitte».[5] Als literarische Vorbilder können unter anderen Franz Kafka und Thomas Bernhard gelten.

Der 1982 erschienene Roman Die künstliche Mutter[6] war seiner Ehefrau gewidmet und trägt in der Erstausgabe die Widmung «Für Anne Marie». 1988 erfolgte ein Wechsel vom langjährigen Verleger S. Fischer zum Suhrkamp Verlag.

Sein früher Förderer, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, schrieb wenige Tage nach seinem Tod, am 3. März 1989, in einem Nachruf: «Hermann Burger war ein Artist, der immer aufs Ganze ging, der sich nicht geschont hat. Er war ein Mensch mit einer grossen Sehnsucht nach dem Glück. Die deutsche Literatur hat einen ihrer originellsten Sprachkünstler verloren.» Zu Burgers Schreibstil schrieb Reich-Ranicki: «Zwischen einer zuweilen schon hypertrophen Beredsamkeit und einer mitunter erschreckenden Sprachlosigkeit schwankend, artikulierte er sein Lebensgefühl».[7]

Auszeichnungen

Publikationen

  • Rauchsignale. Gedichte. Artemis, Zürich 1967.
  • Bork. Prosastücke. Artemis, Zürich 1970.
  • Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Dissertation. Artemis, Zürich 1974.
  • Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Artemis, Zürich 1976.
  • Diabelli. Erzählungen. (Collection S. Fischer, Band 9). S. Fischer, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-596-22309-1.
  • Kirchberger Idyllen. Gedichte. (Collection S. Fischer, Band 14). S. Fischer, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-596-22314-8.
  • Kleine Welt in bunten Bildern. Naive Malerei von Elisabeth Hostettler und Texte von Hermann Burger. AT Verlag, Aarau-Stuttgart 1982, ISBN 3-85502-153-8.
  • Die Künstliche Mutter. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 1982.
  • Ein Mann aus Wörtern. S. Fischer, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-596-22334-2.
  • Schriftbilder der Natur. Farbfotografien von Eckhard Hennig, Texte von Hermann Burger. AT Verlag, Aarau-Stuttgart 1985, ISBN 3-85502-243-7.
  • Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung. (Collection S. Fischer, Band 48). S. Fischer, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-596-22348-2.
  • Blankenburg. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1986.
  • Als Autor auf der Stör. S. Fischer, Frankfurt am Main 1987.
  • Der Schuss auf die Kanzel. Eine Erzählung. Ammann, Zürich 1988, ISBN 3-250-10102-8.
  • Tractatus logico-suicidalis. Über die Selbsttötung. S. Fischer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-10-009618-5.
  • Der Puck. Erzählungen (Nachwort von Adolf Muschg). Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-008580-2.
  • Brenner (auf vier Bände angelegt):
    • Erster Band: Brunsleben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-40157-2.
    • Zweiter Band: Menzenmang. Kapitel 1–7 (= Fragment aus dem Nachlass). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-40477-6.
  • Der Lachartist. Aus dem Nachlass herausgegeben von Magnus Wieland und Simon Zumsteg. Edition Voldemeer, Wien 2009, ISBN 978-3-211-95983-1.
  • Lokalbericht. Aus dem Nachlass herausgegeben von Simon Zumsteg. Edition Voldemeer, Zürich, 2016, ISBN 978-3-11-048187-7.

Werkausgabe

Literatur

chronologisch aufsteigend geordnet

  • Uli Däster et al.: Schauplatz als Motiv. Materialien zu Hermann Burgers Roman «Schilten». Artemis, Zürich 1977, ISBN 3-7608-0449-7.
  • Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der Schweiz. (Essays zu E. Y. Meyer, Erica Pedretti, Otto F. Walter, Max Frisch, Gerhard Meier und Hermann Burger). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-04743-4.
  • Benita Cantieni: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Huber, Frauenfeld/Stuttgart 1983, ISBN 3-7193-0883-9, S. 96–110.
  • Monika Großpietsch: Zwischen Arena und Totenacker. Kunst und Selbstverlust im Leben und Werk Hermann Burgers. Königshausen und Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-879-0 (Dissertation Uni Mainz 1993).
  • Claudia Storz: Burgers Kindheiten. Eine Annäherung an Hermann Burger. Nagel & Kimche, Zürich 1996, ISBN 3-312-00216-8.
  • Christian Schön: Hermann Burger: Schreiben als Therapie. Eine Studie zu Leben und Werk. Ibidem, Stuttgart 1997, ISBN 3-932602-01-3.
  • Andreas Urs Sommer: Literatur und Erlösung. Ein Streifzug durch Hermann Burgers literarisches Werk. In: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft und Kultur, Jahrgang 78, Heft 10, Oktober 1998, S. 31ff, ISSN 0036-7400 (online).
  • Markus Kleinert: Suiziddiskurs bei Jean Améry und Hermann Burger. Zu Jean Amérys «Hand an sich legen» und Hermann Burgers «Tractatus logico-suicidalis». Ibidem, Stuttgart 2000, ISBN 3-89821-002-2.
  • Marie-Luise Wünsche: Briefcollagen und Dekonstruktionen. «Grus» – das artistische Schreibverfahren Hermann Burgers. Aisthesis, Bielefeld 2000, ISBN 3-89528-266-9.
  • Patrick Heller: Brenner. In: Patrick Heller: «Ich bin der, der das schreibt». Gestaltete Mittelbarkeit in fünf Romanen der deutschen Schweiz 1988–1993. Peter Lang, Bern 2002, ISBN 3-906768-65-1 (Dissertation Uni Basel 1996/97).
  • Gerrit Bartels: Runtergeraucht. Hermann Burgers unvollendet gebliebenes Romanwerk „Brenner“. In: Martin Mittelmeier (Hrsg.): Ungeschriebene Werke. Luchterhand, München 2006, ISBN 978-3-630-62110-4, S. 166–185
  • Simon Zumsteg: Einschreibesysteme 1836/1980. Allegorien des Schreibens bei Eduard Mörike und Hermann Burger. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Nr. 80, 2006, S. 486–513, ISSN 0012-0936.
  • Franziska Kolp (Hrsg.): Hermann Burger. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA), Heft 23 (Januar 2007), ISSN 1023-6341
  • Erika Hammer: „Das Schweigen zum Klingen bringen“. Sprachkrise und poetologische Reflexionen bei Hermann Burger (= Schriftenreihe Poetica, Band 95). Kovač, Hamburg 2007, ISBN 3-8300-3043-6. (Dissertation Universität Pécs, Ungarn, 2005.)
  • Markus Bundi, Klaus Isele (Hgg.): Salü, Hermann. In memoriam Hermann Burger. Edition Isele, Eggingen 2009, ISBN 978-3-86142-459-8.
  • Magnus Wieland, Simon Zumsteg (Hgg.): Hermann Burger – zur zwanzigsten Wiederkehr seines Todestages. Edition Voldemeer, Zürich 2010, ISBN 978-3-7091-0049-3.
  • Simon Zumsteg: ‹poeta contra doctus›. Die perverse Poetologie des Schriftstellers Hermann Burger. Edition Voldemeer, Zürich 2011, ISBN 978-3-7091-0165-0.
  • Magnus Wieland, Simon Zumsteg: Hermann Burgers «Lokalbericht». Von der Archivfiktion zur Archivedition. In: Germanistik in der Schweiz, Nr. 9 (2012), S. 91–109, ISBN 978-3-033-03520-1.
  • Simon Aeberhard: Hermann Burgers selbstmörderische Poetologie. Zur Performanz testamentarischer Sprechakte. In: Günter Blamberger, Sebastian Groth (Hgg.): Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids. Fink, Paderborn 2013, S. 275–296, ISBN 978-3-770-55611-3.
  • Simon Aeberhard: Die Künstliche Muttersprache. Hermann Burgers dialektische Etymogeleien. In: Simon Aeberhard, Caspar Battegay, Stefanie Leuenberger (Hgg.): dialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache. Chronos, Zürich 2014, S. 155–175, ISBN 978-3-034-01193-8.
  • Anja Gerigk: Raumwende(n) im Roman. Hermann Burgers «Schilten» als intermediale Kritik des Spatial Turn. In: Robert Krause, Evi Zemanek (Hgg.): Text-Architekturen. Die Baukunst der Literatur. de Gruyter, Berlin/Boston 2014, ISBN 978-3-110-30762-7, S. 237–251.

Film

  • 1979: Schilten, Verfilmung des Romans unter der Regie von Beat Kuert mit Michael Maassen in der Hauptrolle, der auch am Drehbuch beteiligt war

Einzelnachweise

  1. Pino Dietiker, Schweizerische Nationalbibliothek: Das Omnitalent Hermann Burger. Abgerufen am 29. August 2019.
  2. Heinz Sauerländer: Atelier, Laurenzenvorstadt Nr. 61. Abgerufen am 3. September 2020.
  3. Biografische Notiz bei sla-foerderverein.ch, abgerufen am 12. August 2019.
  4. «Mein Name sei Frischknecht». In: Zürcher Studierendenzeitung. 15. November 2016, abgerufen am 29. Mai 2022 (deutsch).
  5. Beda Hanimann: Der Schatz des Wortmachthabers. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  6. Buchbesprechung in der Sendung 52 beste Bücher des Schweizer Radios anlässlich der Neuherausgabe zum 25. Todestag Burgers (9. März 2014).
  7. Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Deutsche Verlags Anstalt, München 2014, S. 509.

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