Leopold Vietoris
Leopold Vietoris (* 4. Juni 1891 in Bad Radkersburg, Steiermark; † 9. April 2002 in Innsbruck) war ein österreichischer Mathematiker und Supercentenarian – er starb im Alter von 110 Jahren und 10 Monaten. Er und seine Frau Maria Josefa Vincentia Vietoris, geb. Riccabona von Reichenfels (* 18. Juli 1901; † 24. März 2002) gehörten zu den ältesten Ehepaaren der Welt.[1]
Leben
Leopold Vietoris war Sohn des Eisenbahningenieurs und späteren Oberbaurates der Stadt Wien Hugo Vietoris und dessen Ehefrau Anna, geborene Diller. Nach dem Abschluss des Stiftsgymnasiums Melk studierte er ab dem Studienjahr 1910/11 an der Technischen Hochschule Wien und ab 1911 an der Universität Wien Mathematik.[2]
Während des Ersten Weltkrieges war er als österreichischer Soldat an der italienischen Front eingesetzt. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. im August 1915 mit der Bronzenen Tapferkeitsmedaille.[3] Ende 1915 wurde er verwundet; er diente zu diesem Zeitpunkt als Kadett in der Reserve in der 17. Kompanie des Infanterieregiments 49.[4] Im März 1916 wurde er zum Leutnant der Reserve[5] sowie schließlich zum Oberleutnant der Reserve befördert. Während der Genesung nach seiner Verwundung schrieb er seine erste mathematische Veröffentlichung. Seine Dissertation über „stetige Mengen“ verfasste er 1918/19 zum Teil in italienischer Kriegsgefangenschaft.
Nach kurzer Tätigkeit als Lehrer (1919/20) war er von 1920 bis 1922 Universitätsassistent an der Technischen Hochschule Graz, von 1922 bis 1927 am Mathematischen Institut der Universität Wien. 1923 habilitierte er sich mit einer Studie zur Mengentheorie, 1925/1926 verbrachte er im Rahmen eines Rockefeller-Stipendiums drei Semester an der Universität Amsterdam bei L. E. J. Brouwer. 1927 wurde er außerordentlicher Universitätsprofessor in Innsbruck, 1928 ordentlicher Professor an der Wiener Technischen Universität, 1930 schließlich ordentlicher Professor an der Universität Innsbruck, wo er – unterbrochen durch den durch eine Verwundung in den ersten Kriegstagen rasch beendeten Einsatz als Oberleutnant in der deutschen Wehrmacht – bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1961 tätig blieb. Einen Ruf an die Universität Wien lehnte er 1935 ab.
Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt Vietoris zahlreiche Auszeichnungen: 1935 korrespondierendes und ab 1960 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Ehrendoktorate der Technischen Universität Wien (1984) und der Universität Innsbruck (1994), Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1970), Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1981), Medaille in Gold der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft (1981), Verdienstkreuz der Stadt Innsbruck (1982). Vietoris war Ehrenmitglied der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft (seit 1965) und der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (seit 1990).
Anfang 1921 hatte sich Leopold Vietoris mit der Lehrerin Anna Pettirsch verlobt.[6] Am 18. September 1928 heiratete er in der Innsbrucker Propsteikirche St. Jakob Klara von Riccabona, die Tochter des Landesgerichtsvizepräsidenten Rudolf von Riccabona.[7][8] Das Paar hatte sechs Kinder, welche die Namen Maria, Anna, Amalia, Magdalena, Elisabeth und Christine trugen.[9] Seine Frau starb im 32. Lebensjahr am 29. November 1935 im Kindbett kurz nach der Geburt des sechsten Kindes.[10][11] Schon während Klaras Krankheit erfuhr die Familie große Anteilnahme seitens der Innsbrucker Bevölkerung.[12] Sie wurde am 2. Dezember 1935 auf dem Westfriedhof beigesetzt.[9] Danach heiratete Leopold Vietoris seine Schwägerin Maria; die Ehe bestand 66 Jahre.
In der Öffentlichkeit wurde Leopold Vietoris vor allem durch sein hohes Alter berühmt, er war bis zu seinem Tod der älteste Mensch Österreichs. Außerdem gilt er als ältester Mann in der Geschichte Österreichs. Selbst im hohen Alter war er noch wissenschaftlich aktiv, seine letzte Arbeit publizierte er mit 103 Jahren. Sein hohes Alter führte er selbst auf seine sportlichen Aktivitäten zurück, bis zu seinem 95. Lebensjahr nahm er regelmäßig an akademischen Skimeisterschaften teil, das Bergsteigen gab er – erzwungen durch einen Oberschenkelhalsbruch – mit 101 Jahren auf. Vietoris verstarb knapp zwei Monate vor seinem 111. Geburtstag. Seine Frau war sechzehn Tage zuvor im Alter von 100 Jahren gestorben.
Vietoris verfasste zahlreiche Beiträge für die Wiener Sprachblätter.
Der Asteroid (6966) Vietoris wurde am 10. Juni 1998 nach ihm benannt.
Forschungsergebnisse
Sein hauptsächliches Forschungsgebiet war die Topologie, zu der er viele wichtige Forschungsergebnisse lieferte, deren bekanntestes wohl die Mayer-Vietoris-Sequenz[13] (zusätzlich benannt nach Walther Mayer) der algebraischen Topologie ist. Weitere nach ihm benannte Erkenntnisse sind der Satz von Vietoris-Begle, die Vietoris-Topologie und die Vietoris-Homologie. Wichtige Beiträge leistete Vietoris auch zur Wahrscheinlichkeitstheorie und zum Bereich der Ungleichungen. Angeregt von seinen privaten Neigungen Bergsteigen und Skifahren beschäftigte sich Vietoris aber auch mit Fragen einer „Geometrie des Bergsteigens“, dem „Schifahren im Lichte der Festigkeitslehre“ und mathematischen Grundlagen der Orientierung im Gebirge – Arbeiten, die er selbst besonders schätzte.
Literarische Verarbeitung
Die Figur des Mathematikers Carl Jacob Candoris in Michael Köhlmeiers Roman „Abendland“ ist teilweise von Vietoris inspiriert, oder, wie es der Autor ausdrückt, eine „kleine Hommage“ an ihn.[14]
Auszeichnungen
- Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1973)
- Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (1981)
- Ehrendoktorat der Technischen Universität Wien (1984)[15]
- Ehrenmitglied der DMV 1992
Schriften (Auswahl)
- Über den höheren Zusammenhang kompakter Räume und eine Klasse von zusammenhangstreuen Abbildungen. Math. Ann. 97 (1927), no. 1, 454–472.
- Über die Homologiegruppen der Vereinigung zweier Komplexe. Monatsh. Math. Phys. 37 (1930), no. 1, 159–162.
Literatur
- Edmund Hlawka und Christa Binder: Nachruf Leopold Vietoris. In: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Almanach 152. Jahrgang. 2001/2002, Wien 2002, S. 429–444. ISBN 3-7001-3128-3
- Heinrich Reitberger: Leopold Vietoris zum Gedenken (4. 6. 1891 – 9. 4. 2002) (PDF; 553 kB). In: Internationale Mathematische Nachrichten. Nr. 191, Dezember 2002, S. 1–16
Weblinks
- Literatur von und über Leopold Vietoris im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Heinrich Reitberger: In memoriam Leopold Vietoris (PDF; 378 kB)
- Gespräche mit Mathematikern: Gilbert Helmberg im Gespräch mit Leopold Vietoris, aufgezeichnet am 9. Juni 1994, Österreichische Mathematische Gesellschaft (Video).
- Modern Times. Leopold Vietoris in einem Beitrag des ORF zum Thema „Altern“, 1998 (Video)-
Einzelnachweise
- ↑ Magistrat der Landeshauptstadt Innsbruck: Innsbruck informiert, Servicebeilage
- ↑ Nachruf auf Leopold Vietoris der Universität Innsbruck
- ↑ Verordnungen des Kriegs-Ministeriums. In: Tages-Post, 5. August 1915, S. 7 (Online bei ANNO). .
- ↑ Verlustliste Nr. 342 vom 24. Dezember 1915. In: Verlustliste. K. u(nd) k. Kriegsministerium, 24. Dezember 1915, S. 5 (Online bei ANNO).
- ↑ Verordnungsblatt für das k.u.k. Heer. Nr. 43. In: Pester Lloyd, 4. März 1916, S. 20 (Online bei ANNO).
- ↑ Personalnachrichten. In: Reichspost, 19. Jänner 1921, S. 5 (Online bei ANNO).
- ↑ Vermählung. In: Innsbrucker Nachrichten, 13. September 1928, S. 4 (Online bei ANNO).
- ↑ Tagesneuigkeiten. In: Neues Wiener Journal, 15. September 1928, S. 9 (Online bei ANNO).
- 1 2 (Todesanzeige der Familie). In: Allgemeiner Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger. Mit der Beilage: „Die Deutsche Familie“ Monatsschrift mit Bildern / Tiroler Anzeiger. Mit den illustrierten Beilagen: „Der Welt-Guck“ und „Unser Blatt“ / Tiroler Anzeiger. Mit der Abendausgabe: „IZ-Innsbrucker Zeitung“ und der illustrierten Wochenbeilage: „Weltguck“ / Tiroler Anzeiger. Tagblatt mit der illustrierten Wochenbeilage Weltguck, 30. November 1935, S. 21 (Online bei ANNO).
- ↑ Todefälle. In: Innsbrucker Nachrichten, 30. November 1935, S. 14 (Online bei ANNO).
- ↑ Todefälle. In: Salzburger Chronik für Stadt und Land / Salzburger Chronik / Salzburger Chronik. Tagblatt mit der illustrierten Beilage „Die Woche im Bild“ / Die Woche im Bild. Illustrierte Unterhaltungs-Beilage der „Salzburger Chronik“ / Salzburger Chronik. Tagblatt mit der illustrierten Beilage „Oesterreichische/Österreichische Woche“ / Österreichische Woche / Salzburger Zeitung. Tagblatt mit der illustrierten Beilage „Österreichische Woche“ / Salzburger Zeitung, 2. Dezember 1935, S. 4 (Online bei ANNO).
- ↑ Frau Klara Vietoris geb. v. Riccabona †. In: Allgemeiner Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger. Mit der Beilage: „Die Deutsche Familie“ Monatsschrift mit Bildern / Tiroler Anzeiger. Mit den illustrierten Beilagen: „Der Welt-Guck“ und „Unser Blatt“ / Tiroler Anzeiger. Mit der Abendausgabe: „IZ-Innsbrucker Zeitung“ und der illustrierten Wochenbeilage: „Weltguck“ / Tiroler Anzeiger. Tagblatt mit der illustrierten Wochenbeilage Weltguck, 30. November 1935, S. 11 (Online bei ANNO).
- ↑ Vietoris Über die Homologiegruppen der Vereinigung zweier Komplexe, Monatshefte für Mathematik, Band 37, 1930, S. 159–162
- ↑ Köhlmeiers Buch „Abendland“ für Deutschen Buchpreis nominiert (Memento vom 1. Oktober 2007 im Internet Archive). 30. August 2007
- ↑ TU Wien: Akademische Würdenträger_innen. Ehrendoktorate (Memento vom 21. Februar 2016 im Internet Archive). Abgerufen am 26. März 2015.
Personendaten | |
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NAME | Vietoris, Leopold |
KURZBESCHREIBUNG | österreichischer Mathematiker |
GEBURTSDATUM | 4. Juni 1891 |
GEBURTSORT | Bad Radkersburg |
STERBEDATUM | 9. April 2002 |
STERBEORT | Innsbruck |
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Leopold Vietoris on his 110th birthday | Mathematisches Institut Oberwolfach (MFO), https://opc.mfo.de/detail?photoID=4343 | Konrad Jacobs, Erlangen | Datei:Vietoris4343.jpg |