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vom 10.05.2022, aktuelle Version,

Sinti und Roma

Sinti und Roma ist das in der Bundesrepublik Deutschland in den frühen 1980er Jahren von Interessenverbänden der seit langem in Mitteleuropa ansässigen Roma implementierte Wortpaar für die Gesamtminderheit der Roma einschließlich ihrer zahlreichen Untergruppen. Sinti sind eine Teilgruppe der europäischen romanessprechenden Gesamtminderheit der Roma. Sie sind seit langem in Mittel- und Westeuropa und im nördlichen Italien beheimatet.

Das Wortpaar sollte die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ ablösen, von der es sich in seinen Inhalten grundlegend unterscheidet. In Österreich ist mittlerweile die Variante „Roma und Sinti“ verbreitet. Beide Doppelbezeichnungen stehen wie die von der International Roma Union bevorzugte und international dominierende Gesamtbezeichnung „Roma“ für den Bruch mit einer als stigmatisierend empfundenen Beschreibungsweise und fordern eine nichtdiskriminierende Perspektive ein.

Zur Semantik

Das Wortpaar ist als Bezeichnung der Gesamtminderheit der Roma eine Besonderheit innerhalb des deutschen Sprachraums. Die Reihenfolge der beiden Einzelbezeichnungen unterscheidet sich in der Verwendung durch Verbände der Minderheit in Deutschland bzw. in Österreich je nachdem, welche der Teilgruppen jeweils größer und einflussreicher ist. Sie bringt mithin eine Rangfolge entsprechend den „unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten (innere Strukturen der Minderheit)“ zum Ausdruck.[1] In Österreich gibt es die Variante „Roma und Sinti“. Sie wird dort von Roma-Organisationen vertreten, die mehrheitlich oder ausschließlich nicht der Gruppe der Sinti angehören,[2] die eine Minderheit innerhalb der österreichischen Gesamtminderheit bilden.

Die führende deutsche Interessenvereinigung, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, und deren Mitgliedsverbände, die überwiegend die Teilgruppe der Sinti repräsentieren, betonen mit der Erweiterung des Wortpaars um den Zusatz „deutsch“ (ursprünglich: „Zentralrat deutscher Sinti und Roma“) beziehungsweise als Bestandteil von Verbandsbezeichnungen in Großschreibung „Deutsch“ ihre Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerung und ihren Vertretungsanspruch.

„Deutsche Sinti und Roma“ in seiner Verwendung durch den Zentralrat bezeichnet:

  • als „deutsche Sinti“ jenen Teil der Teilgruppe der Sinti (oder Manouches) der Roma, der sich aus den „seit 600 Jahren in den deutschsprachigen mitteleuropäischen Ländern beheimateten Angehörigen der Minderheit“ der Roma konstituiert;
  • als „deutsche Roma“ jenen Teil der Teilgruppe der osteuropäischen Roma, deren „Vorfahren … im 19. Jahrhundert aus Osteuropa [in den Raum des 1871 gegründeten Deutschen Reichs] ein(wanderten)“ und die im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind.[3] Damit sind die zahlreichen, lange eingebürgerten „Gastarbeiter-Roma“ und deren Kinder und Enkel in die Definition nicht mit eingeschlossen.

Dass das Vertretungsinteresse sich auf „deutsche Sinti und Roma“ mit einer „Identität als eine deutsche Volksgruppe“ wie die „deutschen Sorben im Osten […], die deutschen Dänen in Südschleswig und die deutschen Friesen im Nordwesten der Republik“ (Romani Rose) beschränkt, damit aber auf die inzwischen seit vielen Generationen in Deutschland ansässigen Roma verzichtet, hat zur Folge, dass die Frage des Bleiberechts für osteuropäische Roma-Migranten unbeachtet bleibt. Das schließt ein, dass der Zentralrat die staatlichen Bemühungen unterstützt, die Lebensbedingungen in den ehemals jugoslawischen Herkunftsländern für Roma-Migranten rückkehrfreundlich zu gestalten. So unterstützte er in Teilen das Programm der nordrhein-westfälischen Landesregierung, mazedonische Roma nach Skopje zurückzuführen.[4] Inzwischen spricht sich der Vorsitzende des Zentralrats dafür aus, „keine Minderheitenangehörigen in den Kosovo abzuschieben“, solange der Kosovo für Rückkehrer unsicher sei. Das Rückführungsabkommen solle ausgesetzt und den bereits lange in Deutschland lebenden Kosovo-Roma dauerhafter Aufenthalt gewährt werden.[5]

Begriffsgeschichte

Es war ein Anliegen der in den 1970er Jahren entstehenden Bürgerrechtsbewegung und der sich gründenden Selbstorganisationen der europäischen Roma, eine neue, nichtdiskriminierende Perspektive auf die Minderheit durchzusetzen und dem auch sprachlich Ausdruck zu geben.[6] Dem diente die Abwendung von „Gypsy“ und „Zigeuner“ (und ähnlichen Fremdbezeichnungen in anderen Sprachen), die durch den Romanes-Begriff „Roma“ abgelöst wurden. 1978 beschloss der 2. Welt-Roma-Kongress in Genf Roma als Nachfolger von Gypsy.[7] In der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Konvention von der Bürgerrechtsbewegung und von den Selbstorganisationen zunächst übernommen. Bei dem Übergang von der Fremd- zur Selbstbezeichnung ergab sich dort, dass parallel dazu „Sinti“ bzw. „Sinte“, Selbstbezeichnung eines Großteils der deutschen Roma-Minderheit, von deren Vertretern eingeführt wurde.[8] „Roma“ blieb zunächst Hauptkategorie.[9] So noch 1980 in einem gemeinsamen Memorandum der International Romani Union (IRU) und des Verbands deutscher Sinti: „Die Mehrheit der deutschen Zigeuner bezeichnet sich als Sinti; die internationale Zigeunerbewegung bezeichnet das Volk der Zigeuner als Roma.“[10]

Die spätere starre Reihenfolge „Sinti und Roma“ lag noch nicht fest. Noch 1989 bezeichnete sich der Vorgängerverband des heutigen Landesverbands NRW Deutscher Sinti und Roma als „Verband Deutscher Roma und Sinti e. V. NRW“.[11] Im weiteren Verlauf gelang es dem dominierenden, sich bald zum Zentralrat deutscher Sinti und Roma konstituierenden Zweig der bundesdeutschen Sinti-Bewegung, der sich auch alteingesessene Roma angeschlossen hatten, das Begriffspaar „Sinti und Roma“ in Deutschland zu etablieren. Es ist eine Besonderheit des deutschen Sprachraums geblieben und steht dort heute neben der Gesamtbezeichnung „Roma“, wie sie inzwischen allgemein Eingang in die Sprache der internationalen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen gefunden hat. Auch in Italien ist in wissenschaftlichen Diskursen die Bezeichnung „Sinti e Rom“ gebräuchlich.[12]

Mit der Durchsetzung der Eigenbezeichnungen im öffentlichen Diskurs in Deutschland hat sich „deutsche Sinti und Roma“ unter Wegfall der nationalen Attribuierung zu „Sinti und Roma“ abgeschliffen. Daraus ergibt sich als Falschangabe in Medien und Politik nicht selten die Rede von „Sinti und Roma“ in Themenfeldern, in denen es Sinti als eine der Gruppen der Minderheit nicht gibt („Der Flamenco – Sinti und Roma in der Musik“, "Sinti und Roma zieht es ins Revier", „Sinti und Roma in Albanien“ u. ä.[13]). „Begriffliche Inkonsistenz“ bewirkt so eine aus Sicht mancher Sinti unerwünschte sprachliche Zusammenführung der Teilgruppen.[14]

Straßenbenennung

In München gibt es im Stadtbezirk Schwanthalerhöhe seit 2002 einen Sinti-Roma-Platz.[15]

Einzelnachweise

  1. Karola Fings, Ulrich F. Opfermann: Glossar [Lemma „Selbstbezeichnungen“]. In: Karola Fings, Ulrich F. Opfermann (Hrsg.): Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung. Paderborn 2012, S. 337–359, hier S. 352.
  2. Siehe z. B. die Homepage des Kulturvereins österreichischer Roma (online (Memento vom 12. Januar 2012 im Internet Archive)).
  3. Siehe: Landesverband Deutscher Sinti und Roma NRW. Dort auch: „Als Roma bezeichnen sich auch die Angehörigen der Minderheit in Osteuropa.“; vgl. damit auch eine Aussage aus dem Jahr 1982 aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage verschiedener Abgeordneter zu „Lage und Forderungen der Sinti, Roma und verwandter Gruppen“, Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, 21. Dezember 1982, Drucksache 9/2.360, S. 1: „Als Sinti bezeichnen sich die seit Jahrhunderten im deutschen Sprachraum lebenden Zigeuner. Als Roma werden in diesem Sinne die im vorigen Jahrhundert aus Polen und Ungarn nach Deutschland eingewanderten Gruppen bezeichnet. Das Wort ‚Roma‘ bezeichnet im Sprachgebrauch der Zigeuner darüber hinaus auch die Gesamtheit aller Zigeuner.“ Vgl. Karola Fings, Ulrich F. Opfermann: Glossar [Lemma „Selbstbezeichnungen“]. In: Karola Fings, Ulrich F. Opfermann (Hrsg.): Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung. Paderborn 2012, S. 337–359, hier S. 352.
  4. Joachim S. Hohmann (Hrsg.): Sinti und Roma in Deutschland. Versuch einer Bilanz. Frankfurt am Main 1995, S. 231–251; siehe auch: idmedienpraxis.de (Memento vom 25. Mai 2013 im Internet Archive).
  5. Romani Rose: Zur Lage im Kosovo. Stellungnahme des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zur geplanten Abschiebung von mehr als 10.000 Roma aus Deutschland in den Kosovo. In: Hinterland. Vierteljahresmagazin des Bayerischen Flüchtlingsrats, Nr. 13, 12. Juni 2010, S. 4–5 (PDF (Memento vom 20. Januar 2012 im Internet Archive)).
  6. Michael Zimmermann: Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Europa des 20. Jahrhunderts. In: Michael Zimmermann (Hrsg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 13–70, hier S. 63; allgemein zur frühen Roma-Bürgerrechtsbewegung, aber auch zur „Wahl des Terminus ‚Rom‘ als offizielle Selbstbezeichnung“ siehe die Seite rombase der Uni Graz: Roma (Memento vom 18. Mai 2013 im Internet Archive).
  7. Siehe: History of the International Roma Day and international Roma movement (online).
  8. „Sinte“ bzw. „Sinti“ konnten nebeneinander stehen, siehe z. B. den Sprachgebrauch eines Präsidiumsmitglieds des Verbands der Sinti Deutschlands e. V. und späteren Zentralratsvorsitzenden: Romani Oskar Rose: Wiedergutmachung nur den Starken? In: Tilman Zülch (Hrsg.): In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa. Reinbek 1979, S. 257–261.
  9. Siehe z. B. die gemeinsam von der Gesellschaft für bedrohte Völker und dem Verband deutscher Sinti herausgegebene Sonderausgabe der Zeitschrift pogrom zum III. Welt-Roma-Kongress, (Göttingen) 1981.
  10. In: Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979. Göttingen 1980, S. 136.
  11. Die Grünen-Fraktion im Landschaftsverband Westfalen-Lippe, GAL/Die Grünen Münster (Hrsg.): NS-Verfolgte 40 Jahre ausgegrenzt und vergessen. Dokumentation einer Anhörung vom 18. Februar 1989 in Münster. Münster 1989.
  12. Paola Trevisan: Le ricerche sull’internamento dei Sinti e dei Rom in Italia durante il regime fascista. In: Hannes Obermair, Sabrina Michielli (Hrsg.): Erinnerungskulturen des 20. Jahrhunderts im Vergleich – Culture della memoria del Novecento a confronto. (Hefte zur Bozner Stadtgeschichte 7). Stadtgemeinde Bozen: Bozen 2014. ISBN 978-88-907060-9-7, S. 189–205.
  13. Einige Beispiele: Wilhelm Klümper: Zuwanderung. Sinti und Roma zieht es ins Revier. In: WAZ, 2. Januar 2014; chs: Sinti und Roma. Asylbewerberwelle vom Balkan beunruhigt Länder. In: Der Spiegel, 13. November 2010, siehe: ; „Es waren die Sinti und Roma, die sich den Flamenco zu eigen machten.“ In:
  14. Abschnitt „Selbstbezeichnungen“ in: Karola Fings, Ulrich F. Opfermann: Glossar: Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933-1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung. Paderborn 2012, S. 337–369, hier S. 352.
  15. Sinti-Roma-Platz, im Internetportal muenchen.de, abgerufen am 15. Juni 2019.

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