Hyrtl, Josef#
* 7. 12. 1810, Eisenstadt
† 17. 7. 1894, Perchtoldsdorf
Anatom
Josef Hyrtl wurde in Eisenstadt im damaligen Ungarn geboren. Er begann sein Studium der Medizin in Wien 1831. Da seine Eltern arm waren, musste er sich Geld für seine medizinische Ausbildung selbst verschaffen. Schon bald erweckte er durch sein Geschick die Aufmerksamkeit von Professoren und Studenten und wurde zum Prosektor der Anatomie ernannt (1833); seine Einspritzungen anatomischen Materials wurden sehr bewundert.
Hyrtls Dissertation, "Antiquitates anatomicae rariores", war eine Vorwegnahme der Arbeit, der er später sein Leben widmen sollte. Er wurde nach seiner Promotion Assistent von Czermak, später auch Kustos des Museums. Hyrtl gab Kurse in Anatomie für Studenten sowie in Praktischer Anatomie für Physiologen.
1837 wurde Hyrtl (mit 26 Jahren!) zum Professor an der Karls-Universität in Prag ernannt. Hier schrieb er sein berühmtes Buch zur menschlichen Anatomie, das durch etwa zwanzig Ausgaben ging und in jede moderne Sprache übersetzt wurde.
1845 ging Hyrtl an den Lehrstuhl für Anatomie in Wien, der frei geworden war. Unter ihm erlangte die Anatomie in Wien Weltgeltung. Sein "Handbuch der topographischen Anatomie" war entscheidend zur Aufnahme der angewandten (bzw. "topographischen") Anatomie als Lehrfach in Österreich und Deutschland. Dieses erste Text-Buch zur angewandten Anatomie wurde weltweit zu einem der wichtigsten Lehrbücher an medizinischen Schulen.
1850 begründete Hyrtl in Wien das „Museum für vergleichende Anatomie“.Ein großer Teil der österreichischen Anatomen der Zeit zählte zu seinen Schülern. Auch versorgte er viele anatomische Museen weltweit mit Präparaten. Hyrtl gilt als der Begründer der sogenannten modernen „Korrosionstechnik“, bei der in Gefäße und Hohlräume verschiedenster Organe Präparationsmischungen eingespritzt und nach dem Aushärten das umliegende Gewebe entfernt wurde. Die verbleibenden Ausgüsse zeigten bisher nie gesehene Details der einzelnen Organe.
Hyrtls anatomische und mikroskopische Präparate erregten wegen ihrer Schönheit weltweit Aufsehen. Sie wurden von vielen Museen angekauft und als Raritäten besonderer Art ausgestellt. Seine vergleichend-anatomische Sammlung von tausenden Skeletten, Injektions- und Korrosionspräparaten aller Organe von Mensch und Tier existiert heute leider nur mehr in Bruchstücken und wird an mehreren Orten aufbewahrt. Ein besonders wertvoller Teil von Hyrtls Nachlass ist im Mödlinger Bezirksmuseum zu sehen: die berühmte Hyrtl-Bibliothek prächtige anatomische Folianten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Auch einige seiner weltberühmten Korrosionspräparate können dort besichtigt werden.
1847 wurde er Mitglied der k. Akademie der Wissenschaften, 1864 zum Rektor der Wiener Universität ernannt. Doch schon 1874 sah Hyrtl sich veranlasst, nachdem der ihm immer wieder zugesagte Neubau des Anatomischen Instituts nicht verwirklicht wurde, sich von der Universität zurückzuziehen und lebte zurückgezogen in Perchtoldsdorf bei Wien, wo er sein wissenschaftliches Alterswerk vollendete.
Im Arkadenhof der Universität Wien wurde Hyrtl zu Ehren ein Denkmal in Form einer Porträtbüste von Johann Unterhalmsteiner errichtet – in seiner Anwesenheit: Der greise Hyrtl hielt selbst, bereits halb blind, die Dankesrede in lateinischer Sprache. Damit ist er der einzige so Geehrte, dessen Denkmal schon zu Lebzeiten enthüllt wurde.
Er ist in Perchtoldsdorf bestattet.
An der ehemaligen Polyklinik in Wien 9, Mariannengasse 10, ist ein Porträtmedaillon angebracht, und im 16. Bezirk ist eine Gasse nach ihm benannt.
Hyrtl kann als der berühmteste Anatom seiner Zeit bezeichnet werden. Als akademischer Lehrer unerreicht, als Schriftsteller von bewundernswerter Gewandtheit, besaß Hyrtl die Gabe, die trockensten Kapitel seiner Wissenschaft im hohen Grade fesselnd in Wort und Schrift darzustellen. Beweis hierfür ist sein 1846 bis 1890 in 20 Auflagen erschienenes, ungemein populäres "Lehrbuch der Anatomie", das, reich gewürzt mit historischen, kulturhistorischen, linguistischen Daten und humoristischen Mitteilungen, nicht bloß für den Anfänger die beste Einführung in das Fach, sondern selbst gereifteren Forschern eine Quelle der Belehrung bot.
Werke (Auswahl)#
- Lehrbuch der Anatomie des Menschen, 1846
- Handbuch der topographischen Anatomie, 2 Bände, 1847/1853
- Handbuch der Zergliederungskunst, Wien, 1860
- Die Blutgefäße der menschlichen Nachgeburt in normalen u. abnormen Verhältnissen, Wien 1870
- Die Corrosionsanatomie und ihre Ergebnisse, Wien 1873
- Anomatologia anatomica. Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart, 1880
Literatur#
- Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin/ Wien 1901, Sp. 796-798
- Österreichisches Biographisches Lexikon ÖBL, Bd. 3 (Lfg. 11), S. 23f
- Neue Deutsche Biographie NDB Bd. 10, S. 109-110
- Glaser, H.: Hyrtl (In: Ders., Wiens große Ärzte. Wien 1950, S. 71-82)
- Der Anatom J. Hyrtl (Festschrift, Mödling 1991)
- Der Anatom Josef Hyrtl. In: Ärzte Woche, 16. Jahrgang Nr. 40, 2002
Der Eremit von Perchtoldsdorf#
Von
Brigitte Biwald
Von der "Wiener Zeitung" freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Arzt, Wohltäter und Sonderling: Zum 200. Geburtstag des Wiener Anatomen Joseph Hyrtl.
Im Revolutionsjahr 1848 war Joseph Hyrtl 38 Jahre alt und gerade dabei, Karriere zu machen. Schon als Medizinstudent war der im ungarischen Kismárton (heute Eisenstadt) am 7. Dezember geborene Sohn eines Oboisten besonders eifrig, fertigte Präparate an und füllte damit die Kästen des Anatomischen Museums in Wien. Hyrtls Lehrer, Joseph Berrres (1796 – 1844), ließ den jungen Medizinstudenten mit den ausgezeichneten Lateinkenntnissen am Atlas "Anatomie der mikroskopischen Gebilde des menschlichen Körpers" mitarbeiten. In der Folge entstand die erste Histologie Wiens.
Dermaßen angespornt, durfte der Praktikant Hyrtl bereits Anfang der 1830er Jahre selbst unterrichten. Ärzte und Staatsmänner folgten gespannt seinen Demonstrationen, die er im "Anatomischen Theater" der Wiener Universität (heute österreichische Akademie der Wissenschaften) vorführte.
Lehrbuch in 20 Auflagen
Hyrtl promovierte 1835 und erhielt aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen die Berufung an die Karls-Universität in Prag, wo er von 1837 bis 1845 Anatomie und Physiologie lehrte. 1845 kehrte er nach Wien zurück und vermehrte alsbald die anatomischen Sammlungen auf über 5000 Präparate. Sein "Lehrbuch der Anatomie des Menschen mit Rücksicht auf die physiologische Begründung und praktische Anwendung", 1846 erschienen, brachte es bis 1889 auf 20 Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Geehrt von Kaiser Ferdinand I., gehörte Hyrtl 1847 zu den bekanntesten deutschsprachigen Anatomen. Doch dann folgte das verhängnisvolle Jahr 1848.
Die Wiener Universität war neben der Jesuitenkirche zum Stützpunkt der studentischen Revolutionäre geworden, das Mobiliar diente als Barrikade. Die anatomische Sammlung im Haus konnte zwar im Oktober 1848 zum Großteil gerettet werden, da Medizinstudenten die Sammlung bewachten, das anatomische Theater aber wurde von einem polnischen Bataillon, das Hyrtls Weingeistsammlung ausgetrunken hatte, zerstört. Die größte Katastrophe jedoch waren der Verlust seiner Bibliothek und die Zerstörung von 5000 Injektionspräparaten, Skeletten und Gehörorganen: Sie verbrannten während der Oktoberrevolution in seiner Wohnung in der Jägerzeile (heute Praterstraße).
Mutlos geworden, nahm er mit Philadelphia Verbindung auf, in der Absicht auszuwandern. "Ich habe alles verloren, was mir teuer war, und von meinen wissenschaftlichen Schätzen ist mir nichts geblieben, als was ich an dem fürchterlichen Tage, der meine friedliche Behausung niederbrannte, auf dem Leibe trug. Ich büßte dabei auch all meinen Lebensmut ein." Doch Hyrtl blieb in Wien und übersiedelte 1849 mit den Resten der geretteten anatomischen Sammlung in die (mittlerweile aufgelassene) Medizinisch-chirurgische Josephs-Akademie. 1850 wurde Hyrtl in eine Studienreformkommission berufen und ihm die Errichtung einer Lehrkanzel für vergleichende Anatomie in Aussicht gestellt. Allmählich überwand er sein seelisches Tief und widmete sich neuen Plänen: Er begann mit dem Aufbau einer neuen Sammlung, um ein vergleichend-anatomisches Museum aufzubauen, bereiste Korsika, Sardinien und Afrika und sammelte menschliche Präparate und Tierpräparate. Aus den Präparaten, bzw. menschlichen und tierischen Skelettteilen, wurde zwischen 1850 und 1860 von Hyrtl und seinem Team die sogenannte "Laokoon-Gruppe" für das Anatomische Museum der Universität Wien geschaffen (welche 1945 zerstört wurde).
Trotz seiner Erfolge als Universitätslehrer galt Hyrtl als unzugänglich, reizbar und unfreundlich. 1874 musste er wegen eines Augenleidens seine Lehrtätigkeit beenden. Bevor er sich gänzlich nach Perchtoldsdorf zurückzog, erregte er noch bei den Weltausstellungen in England, Frankreich, Amerika, Japan und Österreich-Ungarn Aufsehen. Bei der Wiener Weltausstellung von 1873 war die medizinische Fakultät mit mehreren Ordinariaten und vielen Objekten und Präparaten vertreten. Hyrtls anatomische und histologische Präparate wurden von den Regierungen vieler Staaten angekauft und als Raritäten in Museen ausgestellt. Bald wurden sie zu Tausenden hergestellt, in alle Welt verkauft und begründeten den materiellen Reichtum des Anatomen.
Hyrtls Lebensbegleiterin seit den 1850er Jahren war Auguste Conrad, eine Lyrikerin aus Braunschweig, die von ihrem Mann getrennt lebte. Das Leben war für das Paar aufgrund der Prominenz des Anatomen und dem "Kastengeist" in der Kaiserstadt auf akademischem und gesellschaftlichem Boden sehr schwierig, oft unangenehm und peinlich. Die rechtmäßige Eheschließung konnte erst nach dem Tod von Augustes Gatten erfolgen, im Juli 1870 fand die Trauung in der Wiener Alserkirche statt. Das Ehepaar Hyrtl blieb kinderlos und ging viel auf Reisen. Bei einer ihrer "Kurreisen" entdeckten Auguste und Joseph Hyrtl Perchtoldsdorf mit seinen Heilquellen. Sie erwarben im Juni 1869 ein Haus neben der Kirche und Burg und ließen es umbauen. Später nahmen sie auch den Eckturm der Burganlage in Miete, den Hyrtl als Arbeitsraum und Studierstube nützte. In seinem letzten Lebensabschnitt widmete sich Hyrtl der Wohlfahrt.
Er stiftete in Perchtoldsdorf die "Kinderbewahranstalt", finanzierte den Ausbau des Bürgerspitals und ließ in Mödling ein Waisenhaus errichten. Unterstützt wurde er vom "Retter des Wienerwaldes", dem Mödlinger Bürgermeister Joseph Schöffel. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.
Wie aus Schöffels Aufzeichnungen hervorgeht, wurde Hyrtl in Perchtoldsdorf zum Sonderling; er bezeichnete sich ja selbst "als Einsiedler von Petersdorf". Obwohl Perchtoldsdorf als Sommerfrische Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewonnen hatte und bedeutende Künstler wie Franz Grillparzer, Franz Schmidt, Gustav Mahler, Hugo Wolf, Willibald Gluck zeitweise dort lebten, dürfte sich Hyrtl in seinem Perchtoldsdorfer Haus nicht besonders wohl gefühlt haben: Anfang der 1880er Jahre beklagte er sich in einem undatierten Schreiben über das "feuchte Haus", wo er sich "in Pelze hüllen müsse, um bei Nacht nicht zu erstarren". Und diese Pelze, so Hyrtl weiter, seien "in der Früh naß, durch und durch".
Anscheinend sollte das Haus wieder verkauft werden, denn Hyrtl hoffte, "daß das feuchte Gebäude vielleicht doch einem ‚Narren’ gefallen werde". Sieht man sich das Hyrtl-Haus, das die Witwe der Gemeinde Perchtoldsdorf vermacht hatte, heute an, so erkennt man den Grund für die Feuchtigkeit: Das Haus liegt an einem kleinen Abhang, das Wasser kommt von oben herunter.
Hyrtl blieb in diesem Haus und gab sein Eremitendasein nicht mehr auf. Er, der als Professor in Wien stets Wert auf ein tadelloses Erscheinungsbild legte, lief in Perchtoldsdorf im "Anatomiekittel" herum. Nur zu wenigen Anlässen, etwa seinem 70. Geburtstag, seinem 50-jährigen Doktorjubiläum (1886), seinem 80. Geburtstag sowie zur Enthüllung seiner Büste im Arkadenhof der Wiener Universität, zeigte sich Hyrtl in der Öffentlichkeit, fast erblindet, aber noch immer eloquent. "Hätte ich gewußt, daß ich in einem Seeräuberstaat wohne...": So äußerte sich der 75-jährige Hyrtl gegenüber seinem Freund Schöffel über die Bürokratie und Gesetzeslage in Österreich. Schöffel, der als Kämpfer für den Erhalt des Wienerwaldes diese Probleme kannte, musste seinem Freund bestätigen, dass Stiftungen durch Staatsgebühren nach und nach aufgesaugt würden. Hyrtl war darüber so verärgert, dass er namhafte Geldbeträge deutschen Universitäten zukommen lassen wollte. Schöffel, der gerade an der Reformierung des Armen- und Fürsorgewesens arbeitete, konnte seinen Freund nach langem Zureden von dieser Idee abbringen und ihn überreden, für die erste Phase der Errichtung eines Waisenhauses in Mödling 116.579 Gulden (rund 1 Million Euro) zu spenden.
Niedergang der Stiftung
Dieses Waisenhaus für 20 Kinder mit angeschlossener Schwimmschule war allerdings nicht nur eine "Aufbewahrungsanstalt", sondern wesentlich mehr: Die Kinder wurden auf einen Beruf vorbereitet, einige Absolventen konnten sich sogar erfolgreich als Künstler etablieren. Nach dem Tod von Schöffel im Februar 1910 kam es zum langsamen Niedergang der Stiftung. Wirklich vernichtend waren aber die Auflösung der Waisenhausstiftung durch einen Bescheid des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 20. Jänner 1939 und die Zuweisung des Stiftungsvermögens an die Stadt Wien. Hyrtls Stiftungsbrief wurde damit außer Kraft gesetzt.
Anstelle von Waisenkindern wurden Fürsorgekinder untergebracht. 1944 erfolgte die Einquartierung des "Deutschen Volkssturms" und von 1945 bis 1953 die Besetzung der Anstalt durch die Sowjets. Im Juli 1955 wurde die Hyrtl-Stiftung wieder hergestellt. Doch dann trat ein, was Hyrtl und Schöffel immer hatten verhindern wollen: der Ausverkauf und die Zerstückelung des Anstaltsbesitzes durch das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung!
Joseph Hyrtl starb am 17. Juli 1894 und hinterließ dem Perchtoldsdorfer Armenhaus und der von ihm gegründeten Kinderbewahranstalt sowie vielen anderen Institutionen und Personen kleinere Beträge. Hyrtls Frau Auguste erhielt das Nutzungs- und Verwaltungsrecht über das Wohnhaus. Als Universalerben setzte Hyrtl jedoch das Waisenhaus in Mödling ein. Das Grab von Hyrtl und seiner Ehefrau befindet sich am Friedhof von Perchtoldsdorf.
Literatur:
Der Anatom Josef Hyrtl, 1810 – 1894. (Festschrift, Mödling 1991).
Rudolf Gasser/Christine Mitterwenger/Peter Karanitsch: Der Anatom Josephy Hyrtl 1810 – 1894, Perchtoldsdorf 1991.
Brigitte Biwald ist Historikerin und lebt seit 1973 in Perchtoldsdorf bei Wien.
Quellen#