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Pollack, Martin #

* 23. 5. 1944, Bad Hall, Oberösterreich


Kritiker, Schriftsteller und Übersetzer


Martin Pollack
Martin Pollack
© Literaturhaus

Martin Pollack wurde am 23. Mai 1944 in Bad Hall geboren und absolvierte zuerst eine Ausbildung als Bau- und Möbeltischler, bevor er ein Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte in Wien und Warschau absolvierte.

Von 1972 bis 1982 war er geschäftsführender Redakteur bei der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Wiener Tagebuch", zwischen 1987 und 1998 war er auch Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" in Wien und Warschau.


Seit 1998 lebt Martin Pollack als freier Autor und Übersetzer in Wien und im Burgenland.


Mit der Übersetzung der Werke des großen Reisereporters Ryszard Kapuscinski trug Martin Pollack maßgeblich zur Bekanntheit dieses polnischen Weltbürgers im deutschen Sprachraum bei. Mit Wilhelm Dichter und Henryk Grynberg übersetzte Pollack die Werke von Schriftstellern, die sich in ihrem Werk zentral mit Antisemitismus und Holocaust auseinander setzten.


In seinen bekanntesten eigenen Werken geht auch Pollack Fragen nach Antisemitismus und dem organisierten Massenmord des Holocaust nach. "Anklage Vatermord" rekonstruiert den Justizfall Halsmann, mit "Der Tote im Bunker - Bericht über meinen Vater" dokumentiert Pollack seine Spurensuche nach seinem Vater, den er nie kennen gelernt hatte - ein beklemmendes Stück österreichischer Zeitgeschichtsschreibung.


Auszeichnungen, Ehrungen (Auswahl):

  • Diplom des Außenministers der Republik Polen für hervorragende Verdienste um die Förderung Polens in der Welt, 2000
  • Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen, 2003
  • Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung, 2003
  • Buch.Preis (AK Oberösterreich), 2005
  • Toblacher Prosapreis, 2006
  • Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels, 2007
  • mitteleuropäischer Literaturpreis "Angelus", 2007
  • Österreichisch-Polnischer Preis, 2008
  • Georg Dehio-Buchpreis, 2010
  • Leipziger Buchpreis, 2011
  • Preis des polnischen PEN Clubs "für hervorragende translatorische Verdienste auf dem Gebiet der Übersetzung polnischer Literatur in eine fremde Sprache", 2011

Werke (Auswahl)#

Bücher:
  • Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundende Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Wien, München: Brandstätter, 1984
  • Des Lebens Lauf. Jüdische Familien-Bilder aus Zwischeneuropa, 1987
  • Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, 2001
  • Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann, 2002
  • Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. (Hg.), 2006
  • Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann, 2002
  • Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater, 2004
  • Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen. (Hg.), 2006
  • Warum wurden die Stanislaws erschossen?, 2008
  • Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, 2010

Übersetzungen:

  • Juri Andruchowytsch, Andrzej Stasink: Mein Europa. Essays. (ü. zusammen mit Sofia Onufriv). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004
  • Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot. Frankfurt am Main: Eichborn, 2005
  • Michail Glowinski: Eine Madeleine aus Schwarzbrot. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003



Leseprobe#

aus Martin Pollack - "Der Tote im Bunker"


Im Frühsommer 2003 fuhr ich mit meiner Frau nach Südtirol, zum Brenner, um den Bunker zu suchen, in dem vor 56 Jahren mein Vater tot aufgefunden worden war. Er war erschossen worden. Ich wollte mehr über die Umstände seines Todes und die Beweggründe in Erfahrung bringen, die ihn nach Südtirol geführt hatten. Die Nachforschungen hatte ich jahrelang hinausgezögert, vielleicht aus einem unbewußten Gefühl der Angst, ich könnte bei der Spurensuche auf Dinge stoßen, die meine ohnehin schlimmen Erwartungen noch übertreffen würden. Eines glaubte ich von Anfang an zu wissen: Sein gewaltsamer Tod war der Abschluß eines Lebens, in dem Gewalt eine wichtige Rolle gespielt hatte. Wir waren in Gossensass in einem Café am Marktplatz mit einem Mann verabredet, der versprochen hatte, uns bei der Suche nach dem Bunker zu helfen. Peter Kaser ist Künstler und beschäftigt sich nebenbei mit der Erforschung der italienischen Befestigungsanlagen entlang der Grenze am Brenner, er verwaltet selbst einen dieser ausgedienten Bunker, aus dem er einen Kunstort für Performances und Installationen gemacht hat. Von ihm erfuhren wir, daß es auf der italienischen Seite vom Brenner über 50 Bunker und Kassematten gibt, die Mussolini zwischen 1936 und 1942 als Sbarramento di Brennero, Sperre am Brenner, erbauen ließ, gerichtet gegen Österreich und Deutschland; militärisch spielten die Anlagen freilich nie eine Rolle. Die Einheimischen, die wir befragten, kannten die Geschichte von der Leiche im Bunker, man hatte seinerzeit viel darüber geredet, doch wo das gewesen war, wußte keiner zu sagen. Es gebe viele Bunker in der Gegend, sagten sie, und die Geschichte liege lange zurück. Schließlich gerieten wir durch Zufall an einen älteren Mann mit dem runden, rosigen Gesicht eines Kindes, der uns den richtigen Hinweis liefern konnte. Er wohne, sagte er, nicht weit vom besagten Bunker, sein Vater habe oftmals vom Auffinden der Leiche erzählt. Das Ereignis habe seinerzeit die ganze Talschaft in Aufregung versetzt, obwohl die Menschen so kurz nach dem Krieg ziemlich abgestumpft waren. Anfangs wollte er die Örtlichkeit des Bunkers nicht preisgeben, sein Vater, so erklärte er, habe ihm verboten, über jene Ereignisse zu sprechen, damit könne er sich bloß die Zunge verbrennen. Bei diesen Worten setzte er ein boshaftes Lächeln auf, wie ein Kind, das seinen Spaß daran findet, andere hinzuhalten und zappeln zu lassen, doch Peter Kaser ließ nicht locker, bis er endlich mit der Information herausrückte. Wir erreichten die angewiesene Stelle auf einer schmalen, parallel zur Autobahn führenden Straße, sie liegt in Sichtweite der Bahnstation am Brennerpaß. Von der Autobahn tönte ein an- und abschwellendes Dröhnen herüber, verstärkt durch die wie ein Schalltrichter wirkenden Talwände. Neben der Straße war ein ebener Streifen, eine Sumpfwiese, dahinter stieg der Wald steil den Hang hinauf, Fichten und Lärchen, dazwischen einzelne Erlen und Birken. Nach wenigen Schritten stolperten wir über rostigen Stacheldraht, versteckt zwischen den dicken Blättern von Bärenklau und Kohldisteln, der aussah wie ein Teil der üppigen Vegetation. Hier sind wir richtig, sagte Peter Kaser, wo Stacheldraht ist, da ist ein Bunker nicht weit. Wir machten einen Bogen um hohe Brennesseln, dunkle Inseln im hellgrünen Krautwerk, mit jedem Schritt scheuchten wir Wolken winziger Mücken aus dem Dickicht. Auf dem gegenüberliegenden Berghang mähte ein hagerer Mann mit weit ausholenden Bewegungen eine abschüssige Wiese, sein braungebrannter Oberkörper glänzte vom Schweiß. Er hatte sein weißes Hemd ausgezogen und am Rand der Wiese abgelegt, von weitem sah es aus wie ein Hund. Unter den Fichten am Waldrand stand eine schwarze Blechtafel mit verblaßter, zweisprachiger Aufschrift: "Proprietá Militare Accesso vietato. Militäreigentum Zutritt verboten." Wir kamen zu einer niedrigen, überwachsenen Steinmauer, dahinter war eine Felsnische, in der ein senkrechter Riß klaffte: ein spaltbreit offen stehendes Tor, kunstvoll gefertigt aus graugrünen Glasfibermatten, mit Buckeln und Falten, so daß man es bei flüchtigem Hinsehen für gewachsenen Fels halten konnte. Das Tor ließ sich erstaunlich leicht öffnen. Das Ganze hatte etwas von einem Eingang zu einer altmodischen Geisterbahn an sich, nur daß wir hier mitten in der freien Natur standen, am Fuß eines dicht bewaldeten Steilhangs. Das Tor führte in einen kleinen Raum, zwei mal zwei Meter, moosbewachsene, feuchte Betonwände, die Decke wieder aus Glasfibermatten. In der Stirnwand war eine Tür aus grün gestrichenem Eisen, verstärkt mit dicken Gitterstäben, in Augenhöhe ein mit einer Eisenplatte vermachtes Guckloch. Die Tür war verschlossen, mit dem Rahmen verschweißt. Wir standen vor dem Bunker, in dem am 6. April 1947 die Leiche meines Vaters gefunden wurde. (S. 7 f) © 2004, Zsolnay, Wien.

Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags
LITERATURHAUS



Ich gehöre nicht zu den Jammerern#


von
Martyna Czarnowska und Klaus Huhold


Von der "Wiener Zeitung" freundlicherweise zur Verfügung gestellt


Der Schriftsteller und Übersetzer Martin Pollack über seine Vermittlerrolle zwischen Ost- und Westeuropa, seine Herkunft aus einer NS-Familie und die Verflechtung zwischen Nationalsozialismus und Alpinismus.

Sie sind intensiv als Übersetzer tätig. Das bedeutet: Viel Mühe, wenig Lohn und kaum Anerkennung. Eine undankbare Aufgabe?

Martin Pollack: Klar. Übersetzer sind larmoyante Typen, aber sie jammern völlig zu Recht: Sie sind zu schlecht bezahlt. Ich gehöre nicht zu den Jammerern, habe allerdings auch den Komfort, dass ich als Autor halbwegs etabliert bin, sodass ich mir das Übersetzen leisten kann und es nicht als Brotberuf mache. Würde ich nur vom Übersetzen leben, würde ich auch dasitzen und sofort in Tränen ausbrechen.
Was macht Ihnen mehr Spaß: Übersetzer oder Autor zu sein?

Zwischen Autor und Übersetzer möchte ich nicht trennen. Ich bin beides gerne, aber das Übersetzen geht sehr an die Substanz und ist sehr zeitaufwendig.

Wiener Zeitung: Sie haben einen Großteil Ihres Schaffens Osteuropa, besonders Polen, gewidmet. Sie schreiben, verhelfen jungen Autoren zu Veröffentlichungen, vermitteln zwischen dem osteuropäischen und dem deutschsprachigen Raum. Wie sind Sie dazu gekommen?

Martin Pollack: Das hat einen ganz pragmatischen Grund: Ich habe Slawistik studiert. Wäre es Romanistik gewesen, würde ich dieselbe Tätigkeit auf diesem Gebiet machen. Dass ich mich für Slawistik entschieden habe, hängt mit meiner Familiengeschichte zusammen. Es war ein Nazihaus, da war die Studienwahl ein bisschen ein Kontrapunkt. Meine Großmutter hat die Hände gerungen und gesagt: "Um Gottes Willen, Slawen! Ich zahle dir das Studium in Deutschland, in wunderschönen Städten wie Heidelberg oder Rotenburg ob der Tauber." Ich höre diese Namen noch heute. Auch wenn sie sonst nicht sehr spendabel war, da hätte sie alles gezahlt. Ich habe aber auf der Slawistik bestanden.

Wiener Zeitung: Das erste Mal sind Sie in den 60er Jahren nach Polen gereist. Wie haben Sie das Land damals erlebt?

Martin Pollack: Zunächst hatte ich keine Ahnung von Polen. Es war die hohe Zeit des Kalten Krieges, da hat man in Österreich nicht viel über diesen Raum gewusst. Es hat niemanden interessiert. Vielleicht haben die Menschen auch Angst gehabt, nach dem Motto: Wer weiß, was da los ist? Dabei war es dann relativ kommod. Ich habe übrigens absichtlich Warschau gewählt und nicht Krakau, weil ich wusste, Krakau ist ein bisschen österreichisch, kakanisch.

Eigentlich waren die 60er Jahre eine ruhige, gute Zeit in Polen. Dennoch hat es Mangelwirtschaft gegeben, das hat es wiederum für einen Westler sehr attraktiv gemacht. Wir waren unglaublich gefragte Typen. Ich erinnere mich noch: Ich habe am Mexiko-Platz in Wien 30.000 Zloty gekauft. Das war irrsinnig viel Geld. Ich hatte einen alten Mantel, und in den Schultern waren die Scheine eingenäht, denn damals durfte man kein Geld einführen. Ich habe ausgeschaut wie ein russischer Admiral. In Warschau bin ich dann auf all diesen 500-Zloty-Scheinen gesessen, riesengroßen braunen Scheinen mit einem Bergarbeiter darauf. Jedenfalls habe ich dann immer viel Geld gehabt und nicht gedarbt.

Wiener Zeitung: Ist vom damaligen Osten noch etwas geblieben?

Martin Pollack: Ich stelle fest, dass die wirklichen Relikte des Ostblocks am ehesten noch in Österreich zu finden sind. Wenn ich mir etwa die Gesichter auf den Ämtern anschaue, wie die Leute sich dort benehmen . das ist für mich Ostblock total. Oder wenn ich mir einen Gewerkschaftspräsidenten anschaue, dem noch ein Tascherlträger nachgeht.

Wiener Zeitung: Welches Bild von Osteuropa herrscht heute in Österreich vor? Wie hat sich das Interesse, etwa im Kulturbereich, entwickelt?

Martin Pollack: Es hat sich sehr geändert. Zu meiner Zeit war ich allein auf weiter Flur. Es gibt heute viele junge Leute, die sich für Osteuropa interessieren. Es ist ein qualitativer Sprung, aber nicht genug, es könnte mehr sein. Während etwa die österreichischen Banken in Osteuropa äußerst präsent sind, hinkt die Kultur weit hinterher.

Wiener Zeitung: Die Grenzen innerhalb Europas fallen, und neue entstehen. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Europäische Union immer mehr abschottet und Länder wie die Ukraine oder Weißrussland zunehmend in den toten Winkel geraten?

Martin Pollack: Ich habe diesen Eindruck. Wahrscheinlich sagt man sich, dass es nach der großen Osterweiterung einmal gut sein muss, und jetzt ist die Tür für die Weißrussen und die Ukrainer wirklich zu. Und die Ukrainer leiden vielleicht noch stärker darunter als die Weißrussen. Denn sie haben dieses Moment der Öffnung erlebt. Sie haben die Orange Revolution aus eigenen Kräften gemacht und etwas riskiert. Dabei haben sie die Erfahrung gemacht, da geht jetzt die Tür auf . und am nächsten Tag haut man sie ihnen wieder zu und ins Gesicht. Das empfinden die Ukrainer als extrem ungerecht und kränkend. Zu Recht.

Wiener Zeitung: Wenn diese Länder politisch von der westeuropäischen Tagesordnung verschwinden . wirkt sich das auch auf die Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung aus?

Martin Pollack: Ja, genau das ist bei Weißrussland passiert. Das Land liegt im toten Winkel, wofür die Weißrussen nichts können. Es ist ein europäisches Land, eine europäische Kultur, es gibt eine gute Literatur, die es verdienen würde, mehr beachtet zu werden. Doch die Weißrussen sind schon so viele Jahre draußen, dass die Leute in Westeuropa nichts über das Land wissen. Ich war erst kürzlich eingeladen, einen literarischen Abend über Weißrussland zu gestalten. Und die Fragen, die mir dort von gebildeten Leuten gestellt wurden, waren teilweise hanebüchen. Etwa, ob es die Sprache Weißrussisch gibt. Man kann es den Leuten aber nicht verübeln, woher sollen sie es denn wissen? Auf der anderen Seite ist Weißrussland durch das eigene Regime nicht sehr attraktiv. Es ist wie ein Freilichtmuseum, ein Reservat des Stalinismus. Aber gerade deshalb könnte man ein bisschen mehr darüber verbreiten.

Wiener Zeitung: Sie selbst versuchen, diese Kulturen näherzubringen und bewegen sich nicht nur in verschiedenen Räumen sondern auch Zeiten. In Ihrem Buch "Galizien" lassen sie einen Kulturraum wieder aufleben, den es so nicht mehr gibt. Gleichzeitig wehren Sie sich gegen eine Verklärung des untergegangenen Habsburgerreiches.

Martin Pollack: Ich bemühe mich, abgerissene Fäden wieder zusammenzuknüpfen. Mein Buch über Galizien wirkt heute ganz anders als 1984, als es erschienen ist. Ich habe es damals in dem Bewusstsein verfasst, dass ich eine untergegangene Welt beschreibe, in die ich nie hinfahren werde können. Doch mit der Grenzöffnung wirkte das Buch, wie es angelegt war . als ein literarischer Reiseführer. Zudem hat das, was wir untergegangen und verschüttet geglaubt haben, doch subkutan im Untergrund überlebt . etwa in der jungen ukrainischen Literatur. Der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch bezieht sich gebrochen und ironisiert auf diese k.u.k.-Zeit. Ich finde es sehr schön, dass diese Anknüpfung wieder da ist.

Wiener Zeitung: Welche Aspekte der Vergangenheit werden vor allem aufgegriffen?

Martin Pollack: Die Vergangenheit war für die Leute in Galizien immer auch ein Freiraum und ein Gegenpol. Es war eine Zeit, die nicht sowjetisch war. Die aber, etwa bei Andruchowytsch, nicht einer Nostalgie anheim fällt, sondern mit Brechungen integriert wird.

Wiener Zeitung: Gibt es etwas Besonderes aus diesem galizischen Kulturkreis, das in das Heute hinübergerettet werden sollte?

Martin Pollack: Da muss man vorsichtig sein. Da liegt einem natürlich das Multiethnische, Multikulturelle auf der Zunge. Schön wär.s. So gut hat das Multiethnische aber nicht funktioniert. Ich weiß nicht, ob der Gedanke, etwas in die Gegenwart zu übertragen, ein guter Zugang ist. Das lässt sich eigentlich gar nicht machen. Vielmehr glaube ich, das Interesse für gewisse Gegenden und Zustände sollte geschärft werden, etwa das Bewusstsein, dass auch in Galizien die Wurzel für das Böse im 20. Jahrhundert zu finden ist. Das wird normalerweise gerne zugedeckt. Galizien wird gerne als multiethnisches Gebiet verklärt. Die Deutschen waren dort zwar zu unbedeutend, aber der Konflikt Polen.Ukraine hat sich angebahnt. Die großen nationalen Konflikte haben sich immer in solchen Gebieten entzündet. Ich glaube, es ist ganz gut, sich damit zu beschäftigen, warum das so war und was dabei falsch gelaufen ist.

Wiener Zeitung: Um daraus für die Gegenwart zu lernen?

Martin Pollack: Nein, das glaube ich nicht. Aber wenn man mich . wie es in Polen häufig passiert . fragt, ob ich an eine Wiederkehr des Nationalsozialismus glaube, dann sage ich mit ehrlicher Überzeugung: Nein, das würde ich ausschließen. Dennoch: Wenn man sich die Fremdenfeindlichkeit und die Konflikte bei uns anschaut, dann sind diese anders geartet, aber manche strukturellen Elemente sind wiederum so anders nicht.

Und man muss eines sagen: Europa ist ethnisch viel homogener geworden, diese multiethnischen Gebiete sind alle im Verschwinden. Wir haben es zuletzt am Balkan erlebt, wo es noch immer das Prinzip gab, ethnisch gemischte Gebiete säubern zu wollen. Ob das dann ein beglückender Zustand ist, in einem homogenen Gebiet zu leben, wage ich zu bezweifeln. Nur es hilft nichts. Es funktioniert nicht, den Leuten zu sagen, schaut euch das multiethnische Galizien an . errichten wir es ein zweites Mal.

Wiener Zeitung: Also doch kein Rezept für das heutige Europa?

Martin Pollack: Ich habe kein Rezept.

Wiener Zeitung: Ihre Reisen in die Vergangenheit führen Sie auch in die NS-Zeit. In "Der Tote im Bunker" beleuchten Sie die Verstrickungen Ihrer Familie mit dem nationalsozialistischen Regime und die Tätigkeit Ihres Vaters bei der SS. Was hat Sie dazu bewogen, diese Geschichte zu erzählen?

Martin Pollack: Bei diesem Buch hatte ich einfach das Gefühl, dass hier etwas Erzählenswertes ist, das wert ist, sich damit zu beschäftigen. Ich bin in dieser Familie mit unglaublich lieben und netten Menschen aufgewachsen. Ganz sicher waren sie auch normal und keine Psychopathen. Aber da gibt es diese dunkle Seite, und es hat mich fundamental interessiert, wie es dazu kommt.

Wiener Zeitung: Sind Sie bei Ihren Recherchen auf Aspekte der NS-Zeit gestoßen, die Sie überrascht haben?

Martin Pollack: Was mich überrascht hat . was aber auch an meinem Unwissen lag ., war die enge Verflechtung von Nationalsozialismus und Alpinismus. Es gab ja diesen Spruch in der Zwischenkriegszeit: Über 1000 Metern beginnt das Dritte Reich. Das ist natürlich übertrieben, es gab auch jüdische Bergsteiger, aber grosso modo gab es in diesem Milieu viele Nazis. Und die Geschichte von meinem Vater ist dafür irgendwie typisch: Er studiert in Graz, ist ein großer Bergsteiger, ein guter Freund von Heinrich Harrer, der ja auch in Graz zur SS gegangen ist. Das sind keine Zufälle. Dieses bergsteigerische Milieu war extrem stark infiziert, und das hat in Österreich eine ganz wichtige Rolle gespielt. Man hat erst jetzt begonnen, sich die Geschichte des Alpenvereins dahingehend anzuschauen. Da gibt es noch wahnsinnig viel Material.

Wiener Zeitung: Gibt es nicht auch in anderen Bereichen noch jede Menge Material über die NS-Zeit?

Martin Pollack: Wo Sie ein bisschen kratzen, da kommt etwas raus. Ich habe vor kurzem eine Lesung im burgenländischen Lockenhaus gehabt. Das liegt in der Nähe von Rechnitz, wo es bei dem Todesmarsch der ungarischen Juden mindestens 180 Todesopfer gab. Das Grab ist bis heute nicht gefunden. Und es kann mir keiner erzählen, dass das niemand im Ort gewusst hat . und bis heute niemand weiß. 180 Tote . das ist eine riesige Grube. Die Zeit hat gedrängt, die Russen standen vor dem Ort, da müssen viele Menschen, auch Einwohner, geschaufelt haben. Doch sie sprechen nicht darüber. Und dieses Schweigen hält bis heute an.

Wiener Zeitung: Wollten Sie mit Ihrem Buch dieses Schweigen exemplarisch aufbrechen?

Martin Pollack: Ja. Es wurde in Österreich viel tabuisiert. Bei Lesungen haben mir Menschen immer wieder ähnliche Schicksale aus ihrem Familienleben erzählt, teilweise waren diese noch bizarrer und schrecklicher. Viele Menschen hat das Buch auch ein wenig aufatmen lassen: Man kann solche Geschichten schreiben und aufgreifen, ohne dadurch in gröbste Gewissenskonflikte zu geraten. Das Buch ist ja relativ ruhig geschrieben.

Wiener Zeitung: War es trotzdem eine Qual, es zu verfassen? Wie gehen Sie damit um, dass der Vater ein SS-Mann war?

Martin Pollack: In vieles wächst man hinein. Dass mein Vater bei der SS war, wusste ich ja schon sehr lange, damit bin ich aufgewachsen. Aber erst durch meine Recherchen habe ich erfahren, dass er auch in Polen war. Das war eine sehr unliebsame Überraschung, weil ich mich mein ganzes Berufsleben lang mit Polen beschäftigt habe und mit dem Land emotional sehr verbunden bin.

Es ist unglaublich schwierig, damit umzugehen; da geht man schon ziemlich an die Grenzen, auch gesundheitlich. Aber ich habe die Geschichte schon vorher mit mir abgemacht und eine eigene Position gefunden.

Wiener Zeitung: Es ist dennoch mehr als eine Familiengeschichte.

Martin Pollack: Es ist auch ein Teil der österreichischen Geschichte. Ich gehe ja in dem Buch bis ins 19. Jahrhundert zurück, als sich in der Süd- und Untersteiermark . wo ein Teil meiner Familie herkommt . die Nationalitätenkonflikte zugespitzt haben. Es ist der Versuch einer Mentalitätsgeschichte.

Zur Person

Martin Pollack, 1944 in Bad Hall geboren, ist einer der profiliertesten Übersetzer von Werken polnischer Autoren, etwa des Reporters Ryszard Kapuscinski oder des Prosaisten Daniel Odija. Sein Interesse für Polen sei reiner Zufall gewesen, sagt er selbst: "Wäre ich einer ähnlich engagierten Bohemistik-Lehrenden wie der Polonistin Zofia Zielinska begegnet, würde ich mich heute wohl mit Tschechien beschäftigen." Als Herausgeber gibt Pollack Schriftstellern aus weniger beachteten Ländern und Literaturen ein Forum. Sein jüngster Band, "Sarmatische Landschaften" (S. Fischer Verlag, 2006), beinhaltet unter anderem Texte aus Litauen, Weißrussland und der Ukraine. Aber auch das untergegangene Galizien ist für Pollack, als Autor wie als Herausgeber, ein Thema.

Am 12. November wird Martin Pollack für seine vielfältige Tätigkeit mit dem "Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln" im Rahmen der Österreichischen Buchwoche im Wiener Rathaus ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es, dass in den dokumentarischen Büchern "Anklage Vatermord. Der Fall Philip Halsmann" (Zsolnay Verlag, 2002) und "Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater" (Zsolnay, 2004) Pollacks "Blick auf Gewesenes" die Leser "unverfälscht und direkt" erreicht. Während "Anklage Vatermord" von der Ermordung eines jüdischen Bergsteigers und dem von antisemitischen Tönen begleiteten Prozess gegen den beschuldigten Sohn im Tirol der Zwischenkriegszeit handelt, beschreibt "Der Tote im Bunker" die Nähe von Pollacks eigener Familie zum Nationalsozialismus.

Das nächste Werk ist schon in Vorbereitung: Im Februar 2008 erscheint der Band "Warum wurden die Stanislaws erschossen?", der Reportagen des ehemaligen Polen- und Österreich-Korrespondenten für das deutsche Magazin "Der Spiegel" versammelt.

Martin Pollack lebt in Wien und im Südburgenland.

Wiener Zeitung, 9. November 2007

Pollack, Martin: Kaiser von Amerika#


von
Gerhard Lechner


Von der "Wiener Zeitung" freundlicherweise zur Verfügung gestellt



  • Farbige Schilderung der Auswanderung aus Europa vor dem Ersten Weltkrieg
  • Aufzählung Teils erstaunliche Parallelen zur Gegenwart

Die Geschichten, die Martin Pollack in seinem neuen Buch "Kaiser von Amerika" erzählt – dem Österreicher wurde gerade der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2011 zuerkannt –, klingen vertraut: Schlepper, die am Elend ahnungsloser, vor unerträglichen Zuständen fliehender Menschen verdienen, Mädchenhändler, die junge Osteuropäerinnen rund um den Globus jagen, einsame Beamte im Kampf gegen Korruption im Staatsapparat, phantastische Gerüchte von leicht verdientem Geld im Land der Träume – und ein eher unfreundlicher Empfang ebendort, begleitet von Ressentiments der Einheimischen.

Und doch: Pollacks Buch handelt nicht von gegenwärtigen Migrationsströmen nach Europa, sondern von der Auswanderung aus Europa – genauer: von der "großen Flucht aus Galizien", wie Pollack die ungeheure Absetzbewegung, die das österreichische Kronland Ende des neunzehnten, Anfang des 20. Jahrhunderts erfasst hat, nennt.


Keine Galizien-Romantik

Pollack breitet dabei das Bild einer krisenhaften Zeit aus und lässt nur wenig Platz für Galizien-Romantik. Manche überquerten bis zu sechs Mal den großen Teich, richteten ihr Leben zwischen Amerika und dem heimatlichen Dorf oder Schtetl – der überwiegende Teil der Auswanderer wie der Agenten waren Juden – ein. In dem Kronland herrschte unsagbares Elend: Die Eisenbahnverbindung mit Wien überschwemmte das Land mit industriell gefertigter Billigware, alteingesessene Berufe wie der des Flickschusters wurden überflüssig. Auch Hungerjahre gab es: Mütter setzten ihre Kinder aus in der Hoffnung, jemand möge sich ihrer annehmen, oder übergaben sie Frauen, die die Kinder in ihrer Obhut verhungern ließen.

Da verfingen die Lockrufe der Auswanderungsagenten, die ihre Parolen auf die entsprechende Klientel abstimmten: So wurden etwa Polen von wohlhabend aussehenden Agenten, die durch die Dörfer streiften, mit Bildern der New Yorker Freiheitsstatue gelockt: Dies sei die Muttergottes von Tschenstochau, die ihre Polen mit offenen Armen empfange. Bei ruthenischen Bauern löste ein Gerücht um den Kronprinzen Rudolf eine große Auswanderungswelle, das "Brasilianische Fieber", aus: Der bei den Ukrainern beliebte Kaisersohn sei gar nicht, so ging die Mär, in Mayerling ums Leben gekommen, sondern habe sich nach Brasilien aufgemacht, um dort ein großes Reich zu gründen. Er wolle es mit seinen Ruthenen besiedeln. Dort angekommen, war dann alles anders: Statt auf versprochenem eigenem Grund zu pflügen, mussten die Bauern auf den Plantagen von Großgrundbesitzern Frondienst leisten.


Nadelöhr Auschwitz

Eine herausgehobene Rolle im Auswanderungsbusiness spielte eine österreichische Stadt an der Grenze zu Preußen: das polnische Oswiecim, zu Deutsch Auschwitz. Die Stadt lag am Nadelöhr der Migrationsströme und war dementsprechend ein beliebter Tummelplatz für Gauner und Agenten, die die ahnungslosen Reisenden nach Strich und Faden ausnahmen und zum Kauf von Schiffskarten einer bestimmten Agentur zwangen.

Manch einer, der eigentlich nach Preußen zur Arbeit gehen wollte, landete auf einem Schiff nach New York – zumeist auf einem der "Hapag Lloyd" des Reeders Albert Ballin, der über beste Beziehungen zum deutschen Kaiserhaus verfügte. All das – auch Ballins steile Karriere – endete mit dem Ersten Weltkrieg, der die Verbindungen nach Übersee radikal kappte.

Martin Pollack erzählt eine facettenreiche, spannende Geschichte aus der Frühzeit der Globalisierung. Er drängt sich nicht auf, lässt die Quellen sprechen – und schärft mit einer Erzählung aus einer anderen Zeit den Blick für eines der brennendsten Probleme der Gegenwart.

Wiener Zeitung,, Samstag, 27. November 2010

Quellen#


Redaktion: I. Schinnerl