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Kapka KASSABOVA: Am See#

Kapka KASSABOVA: Am See / Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden, Zsolnay, 2021 / Rezension von Guenther Johann

Kapka KASSABOVA: Am See
Kapka KASSABOVA: Am See

KASSABOVA, Kapka: „Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden“, Wien 2021

Während der „Europäischen Literaturtage 2021“ in Krems machten wir mit der Verfasserin dieses Buches Bekanntschaft. In den vier Jahren unseres Kosovoaufenthalts sind wir oft nach Mazedonien gefahren. Es war ein erster Schritt in westliche Zivilisation, wo man in den Geschäften (fast) alles bekam. Oft waren wir am Ochridsee und waren verliebt in diese Gegend. Auch im Winter fuhren wir hin. Mit dem vorliegenden Buch werden viele der Erinnerungen wieder wach. Auch die geschichtliche Einführung über das Land Mazedonien und seine Veränderungen werden in der Einführung vermittelt. Hier erfährt man, warum Bulgarien Anspruch auf das hat, das aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne Kämpfe herausgefallen war, aber den Eintritt in die EU noch immer nicht geschafft hat.

Die Autorin geht ihren Vorfahren nach und hier vor allem als Leitfigur ihrer Großmutter Anastassia. Sie selbst ist mit ihren Eltern nach Neuseeland emigriert. Kam aber dann allein wieder nach Europa zurück. Heute lebt sie in Schottland und ist eine anerkannte Schriftfstellerin. Als solche sucht sie ihre Wurzeln in Mazedonein und den umliegenden Ländern am Balkan. Der zentrale Punkt ist der Ochridsee. Zu dem kommt sie zum Recherchieren und bleibt mehrere Wochen. Das Ergebnis dieser Arbeiten ist der erste Teil des vorliegenden Buchs. Wie in einer Fernsehdokumentation werden Gespräche mit Menschen, Verwandten, Bulgaren, Mazedoniern, Albanern und Griechen geführt. So entstehen Blitzlichter, in denen auch die Geschichte der Region aufflackert. Viel war in dieser Aufenthaltszeit zusammengekommen und sie verlässt den Ochridsee, um zu Hause in Schottland alles aufarbeiten zu können. Aber schon bei der Abreise weiss sie, dass sie wiederkommen wird. Das wird dann der zweite Teil des Buchs. Der handelt am höher gelegenen Prespa See. War es im ersten Teil primär das Suchen nach Familienspuren, so ist es im zweiten Teil eine Bestandsaufnahme der Lage dieses Vielvölker-gewirrs. Sie quartierte sich in einem kleinen Hotel am See ein und fährt die Gegend ab, um mit Zeitzeugen zu reden und deren Geschichten wiederzugeben. Sie trifft auch einige, die geflüchtet oder ausgewandert sind, aber der See zieht sie immer wieder zurück. Man erfährt auch, dass nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Griechen die Türkei verlassen mussten und umgekehrt, sondern auch 60.000 Bulgarien aus Griechenland ausgewiesen wurden.

Grenzen wurden von Politikern ohne Bezug zur lokalen Situation gezogen. Experten fuhren die Grenzgebiete ab und stellten an Hand der Sprache fest, wohin das Land zukünftig gehören soll. Sie machten es, indem sie Geldmünzen in die Luft warfen und sahen, wie sich die Kinder darum stritten und in welcher Sprache. Oft wurden die Kinder durch die neuen Machthaber von ihren Familien abgesondert in in Umschulungslager gebracht. Sehr gut erklärt werden auch die religiösen Unterschiede und vor allem wie anders der Islam am Balkan ist mit seinen Derwischen, die auch Alkohol trinken.

Oft haben sich die Grenzen geändert. „Innerhalb von vierzig Jahren wurde Ochrid je zweimal von Serbien und Bulgarien beansprucht und annektiert; es wechselte also seit der Befreiung von den Osmanen viermal den Besitzer“ (Seite 71) Viele Kriege gab es. Familien wurden auseinander gerissen. Menschen mussten fliehen oder auswandern. Viele kamen um oder wurden verfolgt. Hier verliefen die Fronten im Ersten und Zweiten Weltkrieg und oft kämpften Familienangehörige gegeneinander. Frankreich hatte orientalische Truppen hier in den Bergen installiert und noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts fand ein Schafhirte in einer Höhle französischen Champagner.

Manche hat es härter getroffen. „Die Albaner hatten nur drei Jahrzehnte relativer Freiheit erlebt, jene Zeit, nachdem die osmanischen Kolonisatoren gingen und bevor der kommunistische Totalitarismus begann. (Seite 256) Die Zeit des Dikjtators Hoxa ist vorbei, aber Besitzungen und Häuser wurden immer noch nicht zurückgegeben. Sprachen waren oft für ethnische Zugehörigkeiten verantwortlich. Griechisch, Mazedonisch, Bulgarisch, Albanisch, Serbisch. Ein Sprachengewirr. Die Autorin belegt die Dinge mit Beispielen: „Der Familie seiner Frau Elena hatte man verboten Griechisch zu sprechen und Tanas Mutter und Großmutter wagten nicht, mit ihm und seinem Bruder Mazedonisch zu sprechen. Bis heute sprechen Elena und Tanas Albanisch miteinander – die Sprache ihres Unglücks.“ (Seite 129/130) Die Autorin gibt all dies mit Menschenschicksalen wieder. Menschen, die sie bei ihren Aufenthalten getroffen hat.

Es ist keine klassische Familiensaga. Es ist mehr ein Bericht über das Entstehen einer solchen. Man folgt beim Lesen des Buches den Recherchen der Autorin und muss aus den Informationen die Familiengeschichte selbst zusammenbauen. Eine unkonventionelle Familiensaga. Fast wie Möbelkauf bei IKEA. Man muss selbst mitarbeiten. Aber es ist trotzdem eine wunderbare Geschichte.

PS.: Unverständlich aber bleibt, warum die Autorin so eines guten Buches dem Apostel Paulus eine feministische Behauptung unterstellt, dass „er eine tiefe irrationale Angst vor Frauen“ (Seite 345) hatte.